a) Eheliche Lebensverhältnisse und Obliegenheiten
Während der Ehe gestalten die Partner ihre eheliche Lebensgemeinschaft individuell (§ 1356 BGB); das entzieht sich einer Bewertung, ein gesetzliches Leitbild gibt es nicht. Beide Eheleute haben nach § 1356 Abs. 2 BGB – bis zur Grenze einer Gefährdung des Kindeswohls durch Berufstätigkeit – auch das Recht, erwerbstätig zu sein und den Umfang ihrer Tätigkeit individuell zu bestimmen.
Von daher verbietet sich eine Anwendung der Kriterien zur Erwerbsobliegenheit auf die Zeit des Zusammenlebens; sie kommt allein der Beurteilung "gestörter" Verhältnisse, also nach Trennung oder Scheidung, zu. Nur dort sollte mit dem Begriff der überobligatorischen Tätigkeit gearbeitet werden. Zum eingeschränkten Umfang der Indizwirkung s.o. unter Ziffer III. 2.
b) Systematischer Ansatz
Die Änderung der Rechtsprechung des BGH ist in gewisser Weise widersprüchlich: Einerseits sollen auch die aus unzumutbarer Tätigkeit erzielten Einkünfte die ehelichen Lebensverhältnisse prägen, andererseits wird nach wie vor darauf abgestellt, dass die entsprechende Tätigkeit jederzeit aufgegeben werden kann.
Das ist wenig einsichtig: Prägen können nur nachhaltige Umstände; wie aber kann etwas nachhaltig sein, wenn es jederzeit aufgegeben werden kann? Wo ist dort die Gewähr für eine gewisse Stetigkeit? Die Unklarheiten dürften damit zusammenhängen, dass nicht hinreichend zwischen Bedarf und Bedürftigkeit unterschieden wird.
aa) Prägungsfunktion
Wenn der BGH von der prägenden Wirkung anzurechnender Einkünfte spricht, werden Bedürftigkeit und Bedarf – unzulässigerweise – vermischt. § 1577 BGB betrifft die Bedürftigkeit, § 1578 BGB den Bedarf. Über die Frage einer Prägung ist allein nach § 1578 BGB zu entscheiden, während § 1577 Abs. 2 BGB nur die Frage einer Anrechnung des überobligatorisch erzielten Einkommens betrifft.
Einkünfte prägen dann, wenn sie in der Ehe "angelegt" sind. Notwendig ist hier das Vorliegen der entsprechenden Umstände für eine gewisse Dauer; erforderlich ist die Gewähr einer gewissen Stetigkeit und Nachhaltigkeit. Vorübergehende und kurzfristige Einkommensänderungen sind demgegenüber nicht zu berücksichtigen.
In Bezug auf zukünftige Entwicklungen, konkret für Veränderungen nach Rechtskraft der Scheidung, gilt folgendes: Geht es um Verbesserungen, werden diese bei der Bestimmung des Bedarfs regelmäßig berücksichtigt, sofern es sich um normale und absehbare Weiterentwicklungen aus derselben Einkommensquelle handelt.
Diesen späteren Veränderungen muss eine Entwicklung zugrunde liegen, die aus der Sicht zum Zeitpunkt der Scheidung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten war und die ehelichen Lebensverhältnisse bereits geprägt hat. Die Einkommenssteigerungen müssen noch nicht eingetreten, aber in einer Form zu erwarten gewesen sein, dass die Ehegatten ihren Lebenszuschnitt vernünftigerweise schon darauf einstellen konnten und auch eingestellt haben. Nicht angelegt sind demgegenüber Einkommenssteigerungen, die auf einer unerwarteten Entwicklung beruhen, z.B. in Form eines sogenannten Karrieresprungs oder auf einer nach Scheidung ausgezahlten, aber bei Scheidung nicht absehbaren Abfindung.
Einkommensverringerungen sind – da absehbar und somit beachtlich – bedarfsbestimmend in Fällen eines nicht vorwerfbaren Einkommensrückgangs nach Scheidung, z.B. bei nicht vorwerfbarer Arbeitslosigkeit, dem Beginn der Regelaltersrente oder im Falle einer Erkrankung. Gleiches gilt für einen hinzunehmenden Wechsel in Altersteilzeit sowie bei Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, sofern zum Zeitpunkt der Scheidung die Verschuldung schon weit fortgeschritten war. Im Falle einer Vorwerfbarkeit des Einkommensrückgangs sind fiktive Einkünfte zuzurechnen; der Einkommensrückgang ist dann beim Bedarf nicht zu berücksichtigen.