Dr. Susanne Offermann-Burckart
Bevor auf diese Einzelfälle eingegangen wird, ist es erforderlich, einige grundsätzliche Überlegungen voranzustellen.
I. Ausgangssituation
Das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen ist in Gesetz und Berufsordnung gleich mehrfach geregelt: Zunächst in § 356 Abs. 1 StGB, der den Anwalt, "welcher bei den ihm in dieser Eigenschaft anvertrauten Angelegenheiten in derselben Rechtssache beiden Parteien durch Rat oder Beistand pflichtwidrig dient", mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bedroht. Sodann in § 43a Abs. 4 BRAO, der ebenso apodiktisch wie lapidar feststellt, dass der Rechtsanwalt "keine widerstreitenden Interessen vertreten (darf)". Und schließlich in § 3 Abs. 1 1. Alt. BORA, der bestimmt, dass der Rechtsanwalt nicht tätig werden darf, "wenn er eine andere Partei in derselben Rechtssache im widerstreitenden Interesse bereits beraten oder vertreten hat". Gemeint ist letztlich immer das Gleiche. Allerdings bleiben § 43a Abs. 4 BRAO und § 3 Abs. 1 1. Alt. BORA, wonach schon ein fahrlässiger Pflichtenverstoß berufsrechtlich geahndet werden kann, hinsichtlich der Anforderungen an die subjektive Tatseite deutlich hinter § 356 StGB zurück. Dieser fordert Vorsatz. Außerdem unterscheidet sich § 356 StGB von § 43a Abs. 4 BRAO und § 3 BORA ganz wesentlich dadurch, dass er nur das Verhalten des einzelnen Rechtsanwalts sanktioniert. § 43a Abs. 4 BRAO bezieht dagegen auch die Sozien, § 3 BORA (in Abs. 2) außerdem die Angestellten, freien Mitarbeiter, Bürogemeinschafter etc. mit ein.
Grundlage des Verbots der Vertretung widerstreitender Interessen sind "das Vertrauensverhältnis zum Mandanten, die Wahrung der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts und die im Interesse der Rechtspflege gebotene Gradlinigkeit der anwaltlichen Berufsausübung".
II. Die Tatbestandsmerkmale im Überblick
Bildet man die "Quersumme" aus den im Vorhergehenden genannten Vorschriften, liegt eine Interessenkollision vor, wenn der Rechtsanwalt in seiner Eigenschaft als Anwalt in derselben Rechtssache gleichzeitig oder nacheinander zwei oder mehr Parteien berät und/oder vertritt, deren Interessen gegenläufig sind. So simpel diese Umschreibung auf den ersten Blick scheint, so schwierig ist die Ausfüllung der einzelnen Merkmale im Detail.
1. (Vor-)Befassung
Die Verbotsnormen der §§ 43a Abs. 4 BRAO sowie 356 Abs. 1 StGB und – nach seinem Wortlaut – insbesondere die des § 3 Abs. 1 1. Alt. BORA knüpfen an die berufliche Vorbefassung des Anwalts mit einer Rechtssache an. Eine private Vorbefassung reicht nicht aus. Allerdings wird es gerade in familienrechtlichen Angelegenheiten häufiger vorkommen, dass der Rechtsanwalt von Freunden und Bekannten im Rahmen privater Zusammenkünfte ganz allgemein z.B. auf Fragen des Unterhalts oder des Sorgerechts angesprochen wird. Auch wenn in einem solchen Fall noch keine Mandatierung vorliegt, ist Vorsicht geboten, wenn sich später im Rahmen eines tatsächlichen Auftrags der andere Ehepartner an den Anwalt wendet. Die kontrovers diskutierte Frage, ob das Verbot den Anwalt nur bei vorangegangener anwaltlicher Tätigkeit trifft, oder ob auch andere berufliche Vorbefassungen ausreichen, spielt in den familienrechtlichen Konstellationen dagegen keine besondere Rolle.
Die Erteilung allgemeiner Auskünfte z.B. über das zuständige Gericht, Rechtsmittelfristen oder die Höhe der zu erwartenden Kosten, die die strittige Rechtssache nicht inhaltlich, sondern nur mittelbar betreffen, ist nach h.M. noch keine anwaltliche oder sonst berufliche Vorbefassung. Andernfalls wäre es leicht möglich, durch vordergründige Fragen, die kaum mit einem bestimmten Mandat in Verbindung gebracht werden können, einen unliebsamen Anwalt auf der Gegenseite auszuschalten.
Veröffentlichungen fokussieren sich meist auf das Tatbestandsmerkmal der "Vorbefassung". Dabei ist selbstverständlich, dass nicht nur ein zeitlich aufeinander folgendes, sondern auch ein gleichzeitiges Vertreten widerstreitender Interessen (also die zeitgleiche Annahme gegenläufiger Mandate) untersagt ist.
2. Sachverhaltsidentität
§ 356 Abs. 1 StGB und § 3 Abs. 1 1. Alt. BORA verwenden übereinstimmend den Begriff "derselben Rechtssache", in der der Rechtsanwalt nicht einmal auf der einen und einmal auf der anderen Seite tätig werden darf.
"Rechtssachen" sind dabei alle Angelegenheiten, "bei denen mehrere Beteiligte in entgegengesetztem Interesse einander gegenüberstehen können". Entscheidend ist das Vorliegen eines einheitlichen historischen Vorgangs, also eines identischen Lebenssachverhalts...