Erheblich erschwert wird die Beantwortung der Frage nach dem Vorliegen eines Interessenwiderstreits noch dadurch, dass in Rechtsprechung und Literatur umstritten ist, ob ein objektiver, vernünftiger Dritter oder die Parteien selbst die Interessenlage bestimmen.

In der Rechtsprechung wird vielfach danach unterschieden, ob der Streitstoff der Verfügung der Parteien unterliegt und der Auftraggeber das dem Anwalt erteilte Mandat durch Weisungen beschränken kann. Vor allem in bürgerlich-rechtlichen Vermögensangelegenheiten, die der Parteidisposition unterlägen, sei der Gegenstand des Interesses subjektiv durch die jeweilige Partei zu bestimmen. Ob ein Interessenwiderstreit vorliege, ergebe sich aus dem Auftrag, den der Rechtsanwalt erhalten habe, da er den Umfang der Belange bestimme, mit deren Wahrnehmung der Auftraggeber den Anwalt betraue. Maßgeblich seien nicht der wahre Sachverhalt und die wirkliche Rechtslage, sondern die subjektiven Ziele und Begehren der Beteiligten.[15]

In der Literatur gehen die Meinungen auseinander. Grunewald[16] folgt einer streng objektiven Sichtweise und verlagert subjektive Elemente in den Bereich des Einverständnisses. Nach einer differenzierenden Auffassung entscheidet die durch den Auftrag der Parteien abgegrenzte wirkliche Interessenlage, die aber ihrerseits vom Willen der Parteien gestaltet werde. Eine abweichende Beurteilung dieser Lage durch die Parteien sei ebenso bedeutungslos wie deren Einwilligung in ein pflichtwidriges Handeln des Vertreters, es sei denn, dass die Einwilligung Interessengegensatz und Pflichtwidrigkeit aufhebe.[17] Heine[18] will die Interessen der Parteien jedenfalls dort subjektiv bestimmen, wo der Streitstoff der Parteidisposition unterliegt, also insbesondere in bürgerlich-rechtlichen Vermögensangelegenheiten.

Zu einer streng subjektiven Sichtweise bekennt sich Gillmeister.[19] Schon der Begriff "Interesse" spreche für eine subjektive Sicht. Den Vertretern der objektiven Beurteilung sei entgegenzuhalten, dass besonders zu Beginn von beratungsintensiven Mandaten ein Parteiinteresse noch nicht objektivierbar sei. In vielen Fällen ändere sich das Parteiinteresse im Laufe des Mandats je nach Beurteilung der Erfolgsaussichten und mit der Dauer und den Kosten der Mandatsführung. Eine Partei, die ihren Rechtsbeistand z.B. mit der unbedingten Durchsetzung einer Forderung beauftragt habe und sich erst während des Rechtsstreits vergleichsbereit zeige, bestimme und wechsele ihre Parteiinteressen autonom. Zu Mandatsbeginn hätte der Rechtsbeistand pflichtwidrig gehandelt, wenn er dem Gegner die Vergleichsbereitschaft angedeutet hätte. Nach Änderung des Verfahrensziels in Richtung Vergleich müsse er ihm die Vergleichsbereitschaft mitteilen. Die subjektive Interessenbestimmung des Mandanten, die auch dem Rat des Rechtsbeistands zuwiderlaufen könne, folge der Dispositionsfreiheit über den Mandatsgegenstand. Nur der Auftraggeber entscheide, welche Interessen er seinem Rechtsbeistand anvertrauen wolle und mit welchem Ziel seine rechtlichen Belange verfolgt werden sollten. Die Wahrnehmung seiner Interessen könne gegen die einer anderen Partei aber auch von vornherein auf Vermeidung eines Interessengegensatzes gerichtet sein. Seine Interessenautonomie sei nicht zu relativieren. Unerheblich sei, ob die Wahrnehmung vernünftig, in wohl verstandenem Interesse, realisierbar oder rechtswidrig sei. Der Mandant könne sein Interesse nicht nur materiell, sondern auch in prozessrechtlicher Hinsicht bestimmen, indem er z.B. verlange, bestimmte Zeugen nicht zu benennen, ein nahe liegendes Gutachten nicht zu beantragen oder (nur) einen bestimmten Rechtsweg zu beschreiten. Für eine objektivierende Beurteilung der Parteiinteressen spreche auch nicht der Normzweck des § 356 StGB. Denn wenn das Vertrauen der Allgemeinheit in die Berufstreue des Anwalts geschützt werden solle, müsse zunächst festgestellt werden, welche individuellen Interessen der Rechtsbeistand wahrzunehmen habe. Ein Interesse, das die Partei nicht verfolgen wolle, könne der Rechtsbeistand nicht verraten. Das Parteiinteresse sei nicht objektivierbar und könne nur subjektiv bestimmt werden. Bei Mandatsbeginn hätten viele Auftraggeber noch keine klare Vorstellung vom Ziel ihrer Interessen. Das Parteiinteresse sei nur angedeutet, noch nicht definiert, und solle erst nach Sachverhaltsfeststellung und Beratung ermittelt werden.[20]

So bestechend die subjektive Sichtweise auf den ersten Blick erscheint, so problematisch kann sie im Einzelfall sein. Selbstverständlich ist der Auftraggeber Herr des Mandats, der selbst bestimmt, wie seine konkreten Interessen gelagert sind. Es gibt – namentlich im Familien- und im Erbrecht – immer wieder Situationen, in denen es dem Mandanten nicht darum geht, das materiell Meiste, sondern das ideell Beste zu erzielen. Es gehört aber auch zu den vertraglichen Pflichten des Rechtsanwalts, den Mandanten vor Dummheiten zu bewahren, ihm zu "seinem" Recht zu verhelfen und ihn dabei womöglich sogar vor s...

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