Obwohl es immer wieder Kritik an den Ungereimtheiten gab, dass zwar die Leistungen zur sozialen Grundsicherung beim Unterhaltsregress begünstigt waren, nicht aber die wenigstens ebenso drängenden Belastungen im Fall der Heimpflege, hatte die Politik einen Handlungsbedarf für lange Zeit verneint. Wie der geneigte Leser dem Koalitionsvertrag entnehmen konnte, soll es damit in dieser Legislaturperiode vorbei sein. Es dauerte dann noch mehr als ein Jahr, bis der Gesetzesentwurf im Juni 2019 vorgelegt und Ende September in den Bundestag eingebracht wurde. Danach ging es plötzlich sehr schnell. Schon in der folgenden Woche fand die erste Lesung statt, nach einer kurzfristig anberaumten Sachverständigen-Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales folgten Anfang November die Beschlussempfehlung und einen Tag später die abschließende Behandlung im Bundestag. Gegen die sachlichen Regelungen, die nunmehr alle Leistungen des SGB XII umfassen, gab es im politischen Raum keine Vorbehalte, Differenzen entstanden vor allem bei der Frage, wie Länder und Kommunen die zu erwartenden Mehrbelastungen bewältigen können. Daher wurde es zum Schluss noch einmal spannend, weil beim Bundesrat zwar der Sozialausschuss die Zustimmung, der Finanzausschuss hingegen die Anrufung des Vermittlungsausschusses empfohlen hatte. Die Meinung der Bundesländer war gespalten. Nach einer Protokollerklärung der Bundesregierung stimmten die Länder letztlich mit deutlicher Mehrheit dem Gesetz zu und verlangten in einer Entschließung nur eine nochmalige Prüfung der ihnen allzu optimistisch erscheinenden Folgenabschätzung. Damit waren alle parlamentarischen Hürden überwunden und dem Inkrafttreten der weitreichenden Neuregelungen zum 1.1.2020 standen keine Hindernisse mehr entgegen.
Gegenstand der Reform sind nicht etwa die familienrechtlichen Vorschriften zum Unterhalt oder – was ebenfalls nahegelegen hätte – eine Begrenzung des sozialrechtlichen Nachrangs in § 2 SGB XII, sondern eine weitere Einschränkung der Regeln zum einzusetzenden Einkommen und des gesetzlichen Anspruchsübergangs. Dies bedeutet, dass zwar einerseits die Vorschriften über den familiären Unterhalt dem Grunde nach unberührt bleiben, die erbrachten Sozialleistungen jedoch bedürftigkeitsmindernd wirken. Dieser Umweg in der gesetzlichen Konstruktion ist nur aus der Entwicklung der Sozialgesetzgebung zu erklären.
Lange Zeit bestand zwischen familiärem Unterhalt und sozialer Fürsorge eine klare Trennung. Die soziale Unterstützung wurde erst gewährt, wenn von Haushaltsangehörigen und Verwandten keine Hilfe zu erlangen war. Das Grundprinzip des sozialen Nachrangs prägte bereits die Reichsgrundsätze über das Fürsorgewesen, setzte sich nahezu wortgleich im Bundessozialhilfegesetz fort und wurde 2005 in das SGB XII übernommen. In dieser Zeit hat sich jedoch nicht nur das Wesen des Fürsorgerechts zu einem mit Inkrafttreten des Grundgesetzes gesicherten Rechtsanspruch verändert. Die Grenzen zwischen innerfamiliärer Verantwortung, der sozialpolitisch motivierten Förderung von Familien sowie der Unterstützung in sozialen Notlagen haben sich ebenfalls verschoben und sind durchlässiger geworden – das Verhältnis zwischen Familie und Sozialstaat ist ein dynamisches, welches auch das sozialrechtliche Nachrangprinzip nicht unberührt lässt.
Bereits 1971 hatten Mitarbeiter von Sozialämtern und Behördenleiter eine Lockerung der Heranziehung unterhaltspflichtiger Verwandter befürwortet. Die Folge war eine erste Reform des § 94 BSHG, die eine Überleitung von Ansprüchen gegen Verwandte des 2. Grades ausschloss, der Inanspruchnahme von Eltern volljähriger, behinderter Kinder als einem besonderen Härtefall Rechnung trug und die allgemeine Härteregelung ausweitete. Diese Gestaltungsform behielt der Gesetzgeber auch später bei. An die Stelle der eigentlich für notwendig erachteten Reform des familiären Unterhalts treten Beschränkungen beim Regress durch den Sozialleistungsträger. Damit bleibt zwar der familienrechtliche Anspruch formal bestehen, der sozialrechtliche Nachrang wird hingegen teilweise aufgehoben, um eine Belastung von Unterhaltspflichtigen zu vermeiden, eine eigenständige, von Unterhaltsansprüchen unabhängige Lebensführung zu ermöglichen oder einer verschämten Altersarmut entgegenzuwirken. So hatte auch der 64. Deutsche Juristentag zum Verwandtenunterhalt empfohlen, den Rückgriff der Leistungsträger beim Verwandtenunterhalt nicht vollständig auszuschließen, sondern ihn lediglich in seinem Umfang erheblich einzuschränken. Dieser gesetzgeberischen Praxis folgen die nunmehr durch das "Angehörigen-Entlastungsgesetz" vorgenommenen Änderungen.