Ein Federstrich des Gesetzgebers und "ganze Bibliotheken werden zu Makulatur" – treffender als mit den Worten Julius von Kirchmanns lassen sich die Konsequenzen aus der neuesten Gesetzesänderung nicht beschreiben. Der grundlegende Systemwechsel liegt darin, dass künftig Unterhaltsansprüche gegenüber Eltern und Kindern unberücksichtigt bleiben, soweit deren jeweiliges Gesamteinkommen die Jahreseinkommensgrenze von 100.000 EUR nicht übersteigt.
Während das Grundsicherungsgesetz primär beabsichtigt hatte, die Zugangsschwelle für die Hilfebedürftigen herabzusetzen, verfolgt die aktuelle Reform explizit das Ziel, den bisher das Verhältnis zwischen Unterhalts- und Sozialrecht beherrschenden Nachrang erheblich einzuschränken, um auf diesem Weg eine substantielle Entlastung unterhaltsverpflichteter Eltern und Kinder sowie deren Familien zu erreichen. Der dadurch für viele Betroffene grundlegend veränderte Stellenwert der Sozialhilfe entzieht zugleich einer mehr als zwanzigjährigen familienrechtlichen Rechtsprechung zum Verwandtenunterhalt ihre Grundlagen. Zwar behält das Gesetz die Gestaltungsform des Regressausschlusses bei, beschränkt aber – verkürzt ausgedrückt – die lebenslange Unterhaltspflicht auf Angehörige mit weit überdurchschnittlichen Einkommen. Weniger als 6 % der Bevölkerung erzielen überhaupt Einkünfte in einer die Jahreseinkommensgrenze übersteigenden Höhe.
Nun gehört der Nachrang zu den tragenden Leitgedanken der Sozialhilfe, hat aber nicht die Qualität eines allgemeinen, auch für andere Rechtsgebiete gültigen Rechtssatzes. Vielmehr bedarf er der Konkretisierung, die sich innerhalb der sozialrechtlichen Vorschriften zum Einsatz von Einkommen und Vermögen sowie des Regresses ausdrückt. Insoweit steht es dem Gesetzgeber frei, diese Grenzen für das Sozialrecht vorzugeben und auch immer wieder an veränderte Verhältnisse anzupassen. Es besteht folglich kein allgemeiner Vorrang des familienrechtlichen Unterhalts vor den Leistungen der Sozialhilfe, sondern es sind die jeweiligen Gründe ausschlaggebend, die den Gesetzgeber bewogen haben, Einkommen von der Anrechnung auszuschließen oder Leistungsfälle vom Regress auszunehmen. Die vom Sozialrecht vorgegeben Grenzen, bis zu denen der Einsatz eigenen Einkommens nicht zu erwarten ist oder die Inanspruchnahme von Angehörigen als unzumutbar gilt, sind als Schutzvorschriften auch bei der Beurteilung von Unterhaltsansprüchen zu beachten.
1. Anwendungsbereich des Gesetzes
Die Jahreseinkommensgrenze von 100.000 EUR bezieht sich auf alle Leistungen nach dem SGB XII sowie dem BVG und betrifft die Unterhaltsansprüche von
▪ |
minderjährigen Kindern gegen ihre Eltern mit Ausnahme der Hilfen zum Lebensunterhalt (3. Kapitel), |
▪ |
volljährigen Kindern gegen ihre Eltern, |
▪ |
Eltern gegen ihre Kinder. |
Unterhaltsansprüche sind zu berücksichtigen und können wie bisher als Regressanspruch geltend gemacht werden bei
▪ |
Minderjährigen Kindern,
▪ |
für Leistungen nach dem 3. Kapitel (Hilfen zum Lebensunterhalt), |
▪ |
für Leistungen nach dem 5. bis 9. Kapitel gegen den Elternteil, dessen Gesamteinkommen die Jahreseinkommensgrenze überschreitet, |
|
▪ |
Volljährigen Kindern gegen den Elternteil, dessen Gesamteinkommen die Jahreseinkommensgrenze überschreitet; bei behinderten Kindern gilt weiterhin der nach § 94 Abs. 2 SGB XII begrenzte Anspruchsübergang, |
▪ |
Leistungen an Eltern gegen die Kinder, deren Gesamteinkommen jeweils die Jahreseinkommensgrenze übersteigt, |
▪ |
Ansprüchen auf Trennungsunterhalt und nachehelichen Unterhalt; bei nicht getrennt lebenden Ehegatten gelten für Leistungen nach dem 5. bis 9. Kapitel die besonderen Einkommensgrenzen nach §§ 85 ff. SGB XII, |
▪ |
Ansprüchen wegen der Betreuung eines nichtehelichen Kindes (§ 1615l BGB). |
Erhalten bleibt die gesetzliche Vermutung, das Einkommen ...