Die beiden vorstehenden, ein- und denselben Familienkonflikt betreffenden Beschlüsse des BGH (XII ZB 511/18 und XII ZB 512/18) sind in drei Punkten v.a. für die anwaltliche Familienrechtspraxis erläuterungsbedürftig (1. bis 3.) und illustrieren den dringenden gesetzgeberischen Handlungsbedarf beim Sorge- und Umgangsrecht (4.).
1. Bedeutung des (beeinflussten) Kindeswillens
Im amtlichen Leitsatz zur sorgerechtlichen Entscheidung (XII ZB 511/18) formuliert der BGH, die Abänderung einer Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf einen Elternteil sei trotz eines auf den Wechsel in den Haushalt des anderen Elternteils gerichteten Kindeswillens nicht gerechtfertigt, wenn der Kindeswille nicht autonom gebildet ist und sonstige Belange des Kindeswohls entgegenstehen. In der Entscheidung selbst führt der BGH aus, das OLG habe den auf einen Wechsel in den Haushalt des Kindesvaters gerichteten Willen der Kinder, den diese im vorliegenden wie zum Teil auch bereits im Ausgangsverfahren geäußert haben, berücksichtigt. Es habe dem Kindeswillen im Ergebnis aber zu Recht keine ausschlaggebende Bedeutung zugemessen, weil dem weitere, gewichtigere Gründe des Kindeswohls entgegenstehen. Zwar hätten die Kinder nach den vom OLG getroffenen Feststellungen eine intakte Bindung zum Vater. Demgegenüber falle jedoch erheblich ins Gewicht, dass hinsichtlich der Erziehungsfähigkeit des Vaters, insbesondere seiner Bindungstoleranz, deutliche Abstriche zu machen sind. Es könne dahinstehen, inwiefern es sich beim Willen der Kinder um einen nicht autonomen oder einen teilweise autonomen Willen handelt. Denn für die vom OLG gezogene Schlussfolgerung reiche es aus, dass der Wille der Kinder beeinflusst ist, was von den Vorinstanzen beanstandungsfrei festgestellt worden ist. Überdies habe das OLG maßgeblich auf die mit dem Willen der Kinder nicht zu vereinbarenden weiteren Belange des Kindeswohls abgestellt, die den von den Kindern geäußerten, aber nicht völlig autonom gebildeten Willen als nicht ausschlaggebend erscheinen lassen.
Im Leitsatz zur umgangsrechtlichen Entscheidung (XII ZB 512/18) formuliert der BGH, ein gegenläufiger Wille des Kindes sei nicht ausschlaggebend, wenn dieser maßgeblich vom das Wechselmodell anstrebenden Elternteil beeinflusst ist. In den Gründen führt er an, das OLG habe im Ergebnis zu Recht dem geäußerten Kindeswillen wie im Parallelverfahren keine ausschlaggebende Bedeutung zugemessen, weil dem weitere, gewichtigere Gründe des Kindeswohls entgegenstehen. Zwar hätten die Kinder nach den vom OLG getroffenen Feststellungen eine intakte Bindung zum Kindesvater. Beide Vorinstanzen befänden sich mit ihrer Einschätzung im Einklang mit dem im Parallelverfahren eingeholten und im vorliegenden Verfahren in zulässiger Weise verwerteten Sachverständigengutachten und mit dem Jugendamt. Insbesondere habe der Verfahrensbeistand entsprechend seiner gesetzlichen Aufgabenzuweisung auch den gegenläufig geäußerten Willen der drei betroffenen Kinder berücksichtigt, diesen aber übereinstimmend mit der Sachverständigen und dem Jugendamt als vom Vater beeinflusst und im Widerspruch zu weiteren, gewichtigen Belangen des Kindeswohls angesehen.
"Kindeswillen berücksichtigen" – "ausschlaggebende Bedeutung des Kindeswillens" – "beeinflusster Kindeswille" – "autonomer Kindeswille" – "teilweise autonomer Kindeswille". Diese vom BGH verwendeten Topoi werden in der neueren Rechtsprechung v.a. des BVerfG und in der Literatur mit Blick auf Erkenntnisse aus der entwicklungspsychologischen Forschung wie folgt weiter differenziert: Grundvoraussetzung für die Beachtlichkeit des Kindeswillens ist, dass dieser zielorientiert, stabil, intensiv und autonom sowie nicht selbstgefährdend ist. Kennzeichnend für einen autonomen Willen ist, dass er Ausdruck der eigenen Bedürfnisse des Kindes und nicht nur Reaktion auf die Wünsche eines Elternteils ist. Aus der Tatsache, dass eine Beeinflussung des Kindeswillens stattgefunden hat (sog. induzierter Kindeswille), darf nicht vorschnell auf die Unbeachtlichkeit des Kindeswillens geschlossen werden. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG kann selbst ein auf einer bewussten oder unbewussten Beeinflussung beruhender Wunsch beachtlich sein, wenn er Ausdruck echter und damit schützenswerter Bindungen ist. Das Außerachtlassen des beeinflussten Willens ist daher nur dann gerechtfertigt, wenn die manipulierten Äußerungen des Kindes den wirklichen Bindungsverhältnissen nicht entsprechen. Ob von einer Verinnerlichung des induzierten Willens auszugehen ist, muss sorgfältig geprüft werden, weil die Missachtung eines beachtlichen Kindeswillens kindeswohlgefährdend sein kann.
2. Paritätisches Wechselmodell bei alleinigem Aufenthaltsbestimmungsrecht
Nach dem Leitsatz des BGH zur umgangsrechtlichen Entscheidung (XII ZB 512/18) hat die gerichtliche Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf einen Elternteil keine Bindungswirkung hinsichtlich einer späteren Entscheidung zum Umgang und der sich dabei stellenden Frage, ob...