BVerfG, Beschl. v. 2.11.2023 – 2 BvR 441/23
1. Der verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 76, 1 <49 ff.>; 80, 81 <93>).
2. Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Bei einer Vater-Kind-Beziehung ist der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich, sondern kann eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben.
3. Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es zwar grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines für den begehrten Aufenthaltstitel erforderlichen Visums zu verweisen (vgl. BVerfGK 13, 26 <27 f.>). Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist aber maßgeblich zu berücksichtigen, welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. Eine auch nur vorübergehende Trennung durch Rückkehr des Vaters in seinen Heimatstaat zur Durchführung des Visumverfahrens kann nicht als zumutbar angesehen werden, wenn das Gericht keine gültige Prognose darüber anstellt, welchen Trennungszeitraum der Betroffene realistischerweise zu erwarten hat. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht können die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere dann haben, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfGK 14, 458 <465>; BVerfG, Beschl. der 2. Kammer des Zweiten Senats v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – und v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21, Rn 48).
4. Für die Annahme, dass eine Trennung nicht dauerhaft sei, ist eine belastbare Prognose zu der Frage erforderlich, ob der Ausländer das Visumverfahren mit Erfolg durchlaufen wird. Allein der Umstand, dass im Grundsatz die Erteilung eines Visums generell in Betracht kommt, reicht dafür nicht hin. Insbesondere dann, wenn die Erteilung eines Visums – wie im Fall des § 36 Abs. 2 AufenthG – an hohe tatbestandliche Hürden gebunden ist oder der Auslandsvertretung ein Ermessen eingeräumt ist, ergeben sich Unwägbarkeiten für den Ausländer. Diese verringern die Wahrscheinlichkeit, dass ihm auch tatsächlich ein Visum erteilt wird, und müssen daher Eingang in die anzustellende Prognose finden (vgl. BVerfG, Beschl. der 2. Kammer des Zweiten Senats v. 22.12.2021 – 2 BvR 1432/21, Rn 49 ff.).
(red. LS)
Autor: Gabriele Ey, Vorsitzende Richterin am OLG a.D., Bonn
FF 2/2024, S. 84 - 88