Einer der Kernpunkte der Erbrechtsreform war die Erweiterung der Pflichtteilsentziehungsgründe. Mit dem Ziel, die Testierfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht des Erblassers zu stärken, sollte das Institut an die gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse und familiären Strukturen angepasst und die Entziehungsgründe moderat erweitert werden. Dass damit nun dem Pflichtteilsentzug ein breites Spektrum an Anwendungsmöglichkeit in der Kautelarpraxis eröffnet wäre, mag man – entgegen so mancher Ankündigung in der Boulevardpresse – sicher nicht sagen können. Dann aber wäre die Reform auch an ihrem Ziel vorbeigeschossen. Augenfällig ist aber doch, dass die Pflichtteilsentziehung wieder vermehrt in den Fokus von Rechtsprechung und Literatur gerückt ist und dass die Gerichte einem Pflichtteilsentzug – wie es scheint – nicht mit der gleichen Restriktion wie bisher begegnen.
1. Der neue Pflichtteilsentziehungsgrund des § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB
So liegt inzwischen erste (unterinstanzliche) Rechtsprechung zum neuen Pflichtteilsentziehungsgrund wegen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr ohne Bewährung gemäß § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB vor. Nach Langem wurde hier einer Pflichtteilsentziehung die Wirksamkeit zuerkannt: In einem vom Landgericht Stuttgart zu entscheidenden Fall hatte die 2011 verstorbene Erblasserin ihrem einzigen Sohn durch notarielles Testament aus dem Jahre 2007 den Pflichtteil entzogen. Als Begründung führte sie darin an, dass ihr Sohn einen tiefen Hass gegen sie hege, dieser ihr nach dem Leben getrachtet habe und im Jahre 1980 rechtskräftig wegen Vergewaltigung verurteilt worden sei. Sie hielt die Vorgänge in ihrem Tagebuch fest.
Das Landgericht sah die Pflichtteilsentziehung in materieller wie in formeller Hinsicht als wirksam an. Dies stützt das Gericht zum einen auf § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB: Dieser Entziehungsgrund erfordere eine rechtskräftige Verurteilung des Pflichtteilsberechtigten wegen einer vorsätzlichen Straftat, durch die dem Erblasser eine Teilhabe des Verurteilten an seinem Nachlass unzumutbar wird. Erforderlich sei demnach eine schwerwiegende sozialwidrige Verfehlung, welche eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr nach sich gezogen hat. Da auf die Anknüpfung an ein Verbrechen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens bewusst verzichtet wurde, um auch Sexualdelikte einzubeziehen, unterfalle die hier erfolgte Verurteilung wegen Vergewaltigung zu mehr als zwei Jahren dem Tatbestand. Das Gericht prüft darüber hinaus gesondert, ob es der Erblasserin unzumutbar ist, ihrem Sohn sonach eine Teilhabe an ihrem Nachlass zu gewähren und bejaht die Frage, da die Tat den persönlichen in der Familie der Erblasserin gelebten Wertvorstellungen in hohem Maße widerspricht. Es stellt allerdings auch darauf ab, dass dies in der Regel bei schweren Straftaten mit erheblichen Freiheitsstrafen so sei (das erste Tatbestandsmerkmal hat also wohl eine gewisse Indizwirkung), begründet aber auch, warum das gerade hier in der Familie der Erblasserin so war: Diese war streng gläubige Katholikin, die unter der Strafe ihres Sohnes gelitten habe. Ohnehin aber handele es sich bei einer Vergewaltigung um eine Straftat, welche nach den Anschauungen der Rechtsgemeinschaft in besonderem Maße geächtet ist und keineswegs ein Kavaliersdelikt sei.
Neben § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB zog das Gericht auch den Entziehungsgrund des schweren vorsätzlichen Vergehens gegenüber der Erblasserin nach § 2333 Abs. 1 Nr. 2 BGB heran. Hierfür sei ein schwerwiegendes, dem Erblasser unzumutbares Fehlverhalten erforderlich, aber auch ausreichend, weshalb auch Beleidigungsdelikte und sogar auch psychische Misshandlungen, wenn sie den Tatbestand des § 240 BGB erfüllen, geeignet seien, den Tatbestand zu erfüllen. Da der Sohn seine Mutter des Öfteren massiv beleidigt und ihr damit gedroht habe, sie umzubringen, sei der Pflichtteilsentzug gerechtfertigt. Eine Abwägung, ob eine "schwere Missachtung der Familiensolidarität" vorlag, erfolgte weder im Rahmen der Nr. 4 noch im Rahmen der Nr. 3 des § 2333 Abs. 2 BGB.