Es sind kritische Stimmen zu vernehmen – mit unterschiedlicher Intensität. Maurer hat darauf hingewiesen, dass die reine Einzelfallbeurteilung keineswegs im Regierungsentwurf so stringent formuliert worden ist, wie dies jetzt vom BGH vertreten wird und Reinken schließt seine Ausführungen zum Betreuungsunterhalt des geschiedenen Ehegatten mit der Erkenntnis, dass die neue Rechtslage zwar zweifellos die Möglichkeit zu mehr Einzelfallgerechtigkeit biete, sie aber "indes zu großer Verunsicherung geführt" habe. Diese Verunsicherung und die Sorge vor Haftungsfällen erschwerten – so Reinken – besonders außergerichtliche Regelungen. Zwar lasse die individuelle Lebenssituation des betreuenden Elternteils und des Kindes kaum eine pauschalierende Lösung zu, gleichwohl aber könnten allgemeine Erkenntnisse zur Entwicklung eines Kindes in den jeweiligen Lebensjahren, den Lebensabschnitten und den Lebenssituationen die Möglichkeit eröffnen, einen allgemeinen Beurteilungsansatz zum Umfang der Betreuungsbedürftigkeit eines Kindes zu entwickeln, der dann individuell unter Berücksichtigung der weiteren Einzelfallumstände auf seine Tragfähigkeit geprüft werden könne. Löhnig/Reiser halten den Dreijahreszeitraum in der Gesetz gewordenen Fassung wegen der Bevormundung der Familien für schlicht verfassungswidrig, Erbarth folgt dem und verweist auf die internationale Forschungsliteratur, welche die Rechtsprechung und der Gesetzgeber überhaupt nicht zur Kenntnis nehme. Zu Recht verweist Menne im Rahmen eines interessanten Rechtsvergleichs mit dem Schweizer Recht auf die weiteren zahlreichen Stimmen im Schrifttum und die zwischenzeitlich ergangene, nicht einheitliche Rechtsprechung; diese Diskussion belege eindrucksvoll, dass im Hinblick auf die Ausgestaltung, Reichweite und den Umfang des Betreuungsunterhalts zahlreiche Fragen nicht geklärt sind.
Auch Verbände und die Anwaltschaft haben sich zu Wort gemeldet. Beispielhaft sei der Deutsche Anwaltverein genannt, der am 20.9.2010 Nachbesserungen auch beim Betreuungsunterhalt gefordert hat. Auch die Anwaltschaft beschreibt das Dilemma der Kollegen, den Rechtssuchenden keine zuverlässige Prognose stellen zu können, wie ein Verfahren ausgeht, von den Unsicherheiten bei außerforensischen Beratungsfällen abgesehen. Auch Vorsitzende und Angehörige von OLG-Senaten erklärten unter vorgehaltener Hand, sie wüssten im Einzelnen nicht, was richtig sei und würden entscheiden, wie sie es persönlich für angemessen halten. Dabei ist diese Kritik keineswegs neu. Graba hat schon 2008 unter dem Eindruck der Unterhaltsreform vor einem "Ehegattenunterhaltsrecht nach der Billigkeit" gewarnt und Schwab hat vorausgesehen, dass das neue Recht sicher bedeutsame Auswirkungen auf die Lösung zahlloser Einzelfälle habe. Es wird Zweierlei offenbar: eine deutlich, hauptsächlich von der Praxis geäußerte Kritik an der Einzelfallbeurteilung, verbunden mit einer gewissen Sehnsucht nach "allgemeinen Erkenntnissen" – will heißen, nach einem festen Modell, welches durch individuelle Betrachtungen je nach dem Bedürfnis des einzelnen Falles modifiziert werden kann.
Es ist zweifelhaft, ob das Prinzip der Einzelfallbetrachtung einem schematischen Prinzip überlegen ist. Die Zweifel sollen aus der Perspektive des Rechtsanwalts, des Mandanten und aus dem gegenwärtig praktizierten Modell der Einzelfallbetrachtung formuliert werden.
(1) Die Billigkeitsentscheidung nach § 1570 Abs. 1 S. 2 BGB hat eine eklatante Beratungsunsicherheit zur Folge. Es kann nicht mehr prognostiziert werden, wie lange der Betreuungsunterhalt nach Ablauf von drei "Basisjahren" gewährt wird. Beantworten Sie doch einmal als Anwältin oder als Anwalt die Frage der Mandantin, wie lange der Betreuungsunterhalt bezahlt werden muss, bis zum vierten, fünften oder sechsten Lebensjahr des Kindes? Und beantworten Sie die Frage, ab wann eine Halbtags-, Dreivierteltags- oder vollschichtige Tätigkeit verlangt wird. Auf sichere Kriterien kann die anwaltliche Beratung nicht gestützt werden, auf den fragenden Blick meist der Klientin muss man antworten, dies komme auf einzelne Umstände an, welche könne man nicht genau sagen, und es komme auch auf das Bild des Richters von der Familie an. Denn eine junge Richterin mit drei Kindern wird die Situation mit Sicherheit – den Einzelfall betrachtend – anders bewerten als ein unverheirateter 60-jähriger Richter ohne Kinder. Die Beratungsunsicherheit bringt für den betreuenden Elternteil Ängste, ob für die nahe Zukunft nach Ablauf der drei "Basisjahre" die finanziellen Grundlagen für eine dem Kindeswohl gerecht werdende Betreuung gesichert sind.
Die Risiken der ausschließlichen Einzelfallbetrachtung beeinflussen das Verhalten des Anwalts in der konkreten Verfahrenssituation. Das Gericht schlägt einen bestimmten Vergleich vor – und erfahrungsgemäß sind die Richter I. Instanz etwas rigider als die der folgenden Instanzen. Soll man auf den Vorschlag des Gerichts eingehen und der – meist Mandantin...