Einführung
Im Jahr 2019 haben die Jugendämter in Deutschland bei rund 55.500 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung festgestellt. Dies waren 10 % mehr als im Vorjahr.
Die Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB stellen die Familiengerichte und die übrigen professionell Beteiligten vor erhebliche Herausforderungen. Aufgrund der hohen verfahrens- und materiell-rechtlichen Anforderungen sind die Verfahren und Entscheidungen in diesem Bereich besonders fehleranfällig. Für eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit hat der "Missbrauchsfall von Staufen" gesorgt. Dort kam es zu erheblichen Fehlern seitens der Familiengerichte. Die Lehre, die daraus gezogen werden muss, ist, dass es unabdingbar ist, in Kindschaftssachen die verfahrensrechtlichen Vorgaben einzuhalten (Bestellung Verfahrensbeistand, persönliche Anhörung des Kindes). Auch ist es dringend geboten, den Sachverhalt umfassend zu ermitteln, sowie bei der Erteilung von gerichtlichen Verboten und Geboten auch für deren Kontrolle zu sorgen.
Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, weder zu früh noch zu spät Maßnahmen zum Schutz des Kindes einzuleiten. Dies betrifft insbesondere Vernachlässigungsfälle. Auf der einen Seite hat das Kind keinen Anspruch darauf, unter bestmöglichen Lebensumständen aufzuwachsen. Auf der anderen Seite müssen Kindeswohlgefährdungen bzw. Kindeswohlschädigungen aufgrund der zum Teil dramatischen Auswirkungen auf das Kind unbedingt vermieden werden.
I. Der Gefahrbegriff bei der Kindeswohlgefährdung
1. Allgemeine Grundsätze
Ein besonderes Augenmerk muss auf der Feststellung der Gefährdung des Kindeswohls liegen. Eine solche, ist zu bejahen, wenn eine gegenwärtige Gefahr von einem solchen Ausmaß vorliegt, dass sich ohne eine Intervention eine erhebliche Schädigung des Kindes mit hinreichender Sicherheit voraussehen lässt. Die bloße Besorgnis künftiger Gefährdungen genügt nicht. Es gehört nicht zum staatlichen Wächteramt, für eine bestmögliche Förderung des Kindes und seiner Fähigkeiten zu sorgen.
Insbesondere genügt es für eine Trennung des Kindes von seinen Eltern nicht, wenn das Kind durch andere besser erzogen und gefördert werden könnte.
Die Gefährdung muss nachhaltig und schwerwiegend sein. Wenn der Schaden noch nicht eingetreten ist, muss die gegenwärtige Gefahr einer mit hinreichender Sicherheit voraussehbaren und konkret zu benennender Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes bestehen. Eine mittel- oder langfristige bzw. latente oder allgemeine künftige Gefährdung genügt nicht.
Insbesondere die Fälle der Vernachlässigung sind in der Praxis schwer zu beurteilen. Denn zum einen ist bei der Beurteilung, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, das familiäre Milieu miteinzubeziehen, da der staatliche Eingriff nach § 1666 BGB nicht dazu dient, dem Kind optimale Entwicklungsbedingungen zu verschaffen. Zum anderen zeichnen sich Vernachlässigungsfälle häufig dadurch aus, dass diese in der Regel nicht unmittelbar zu schweren Folgen für das Kind führen, sondern eher langfristig erhebliche Schäden verursachen. Ob die Voraussetzungen des § 1666 BGB vorliegen, entscheidet sich nach dem Ausmaß der Vernachlässigung, der Schutzbedürftigkeit des Kindes und inwieweit bereits schädigende Folgen für das Kind eingetreten sind.
In zeitlicher Hinsicht sind die Voraussetzungen für ein staatliches Eingreifen gegeben, wenn die künftige Schädigung hinreichend wahrscheinlich ist, die zur Schädigung führende Entwicklung begonnen hat und diese Entwicklung zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr aufgehalten werden kann.
Der BGH hat herausgearbeitet, dass das erforderliche Maß der Gefahr nicht generell abstrakt festgelegt werden kann. Die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringer, je schwerer der drohende Schaden wiegt. Weiterhin ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeit das Verhältnis zwischen der Schwere des Eingriffs in die elterliche Sorge und dem Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts für das Kind zu beachten. Damit setzt der BGH das Wahrscheinlichkeitselement des Gefährdungsbegriffs ins Verhältnis zur gewählten Rechtsfolge.
Der BGH betont, dass sich die Wahrscheinlichkeitsgrade auf der Tatbestandsebene und der Rechtsfolgenseite unterscheiden. Auf der Tatbestandsebene ist von einem einheitlichen Gefährdungsbegriff auszugehen, ohne dass es hier bereits auf das Gewicht der zu ergreifenden Maßnahmen ankommt.
Hier ist eine hinreichende Wahrscheinlichkeit einer Kindeswohlgefährdung erforderlich. Der erhöhte Wahrscheinlichkeitsgrad der ziemlichen Wahrscheinlichkeit kommt erst auf der Rechtsfolgenseite zum Tragen, wenn zur Abwehr der Gefahr die elterliche Sorge entzogen werden soll.
Die Annahme einer hin...