I. Einleitung
Seit mindestens 30 Jahren wird bei Gerichtsverhandlungen in Sorge- und Umgangsrechtsverfahren mit der "Pseudo-Diagnose PAS" (Parental Alienation Syndrome) oder "Eltern-Kind-Entfremdungssyndrom" auch im deutschen Sprachraum argumentiert und häufig wird die Existenz dieser Diagnose nicht hinterfragt.
Elternteilen, meist Müttern, wird damit von Sachverständigen in deren Gutachten bescheinigt, sie zeigten "fehlende Bindungstoleranz" und würden "emotionalen Missbrauch" betreiben. Infolgedessen wurden bereits mehrfach Kinder und Jugendliche gegen ihren Willen zu Besuchen mit dem abgelehnten Elternteil gezwungen. Es wurde dem sorgeberechtigten Elternteil die Erziehungsfähigkeit abgesprochen und dem abgelehnten Elternteil zugesprochen, obwohl in manchen Fällen der Verdacht auf Misshandlung durch den abgelehnten Elternteil bestand oder sogar Verurteilungen gegen den Elternteil vorlagen, dem das Kind zugesprochen wurde.
Dieser Beitrag zeigt die aktuelle Situation in der österreichischen und deutschen Rechtsprechung und unterstreicht, dass es keine Situationen gibt, in denen der Kindeswille übergangen werden darf, weil er angeblich manipuliert wurde. Stets ist das Kindeswohl die zu beachtende zentrale Maxime in diesen Verfahren.
Der 3. GREVIO Bericht zeigt aufgrund verschiedener Studien, dass Behauptungen von Parental Alienation genutzt wurden, um Vorwürfe häuslicher Gewalt und sexuellen Missbrauchs zu negieren und dass in einer Vielzahl von Fällen, in denen es Hinweise auf das Vorliegen von häuslicher Gewalt gab, diese "Befürchtungen" verschwanden, sobald in den familienrechtlichen Verfahren der Fokus auf das Konzept der Eltern-Kind-Entfremdung gelegt wurde.
Die angebliche Diagnose "PAS" (Parental Alienation Syndrome) ist zwar als Plädierformel gebräuchlich, wissenschaftlich aber höchst umstritten. Ihre angeblichen Diagnosekriterien, entsprechende Einteilungen und Schweregrade sind nicht empirisch abgesichert, weshalb im Folgenden auch von Pseudodiagnose und Pseudosyndrom gesprochen wird.
II. PAS (Parental Alienation Syndrome), Eltern-Kind-Entfremdungssyndrom
Offensichtlich hat das "PAS-Konzept" auch im deutschsprachigen Raum eine hohe Faszination für Sachverständige und Jurist:innen.
Dieses Konzept von Dr. Richard Gardner (2001), welcher die Pseudodiagnose "PAS" (Parental Alienation Syndrome) aufgrund von Beobachtungen in seiner Praxis und der langjährigen Tätigkeit als Gerichtsgutachter in den USA in den 1980er Jahren entwickelt hat, beschrieb zunächst acht Hauptsymptome dieses Pseudosyndroms:
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Verunglimpfungskampagne, |
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absurde Rationalisierungen der Verunglimpfung, |
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fehlende Ambivalenz, |
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Phänomen "eigenständiges Denken", |
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reflexartige Unterstützung des entfremdenden Elternteils, |
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fehlende Schuldgefühle, |
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entliehene Szenarien, |
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Ausweitung der Feindseligkeiten auf erweiterte Familie des entfremdeten Elternteils. |
Damit unterschied er 3 Typen:
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schwach, |
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mittelstark und |
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schwer. |
Im Rahmen der einschlägigen Sekundärliteratur, die sich auf "PAS" beruft, erfolgt auch eine Einteilung in Bezug auf die sogenannte "Bindungstoleranz" von Elternteilen und es werden verschiedene Schweregrade von fehlender Bindungstoleranz wie auch Eltern-Kind-Entfremdungssymptomatik beschrieben. Das missverständlich so genannte Prinzip der "Bindungstoleranz", die Kooperation und das Aufrechterhalten von Beziehungen und Bindungen des Kindes mit dem anderen Elternteil und allen anderen für das Kind bedeutsamen Personen, stellt mittlerweile quasi ein Sorgerechtskriterium dar. Das Vorliegen solcher "Bindungstoleranz" deute auf eine verantwortete Elternschaft hin. Für die gerichtliche Beurteilung spielt eine Rolle, welcher Elternteil die beste Gewähr bietet, dass dem Kind der andere Elternteil und alle anderen bedeutsamen Personen als Bezugspersonen erhalten bleiben und ob dieser Elternteil zudem bereit ist, die Kontakte aktiv zu unterstützen. Fehlende "Bindungstoleranz" kann den Entzug des Sorgerechts oder den Wechsel der Betreuungsverhältnisse bedingen. Diese Entscheidungsprinzipien gemäß § 1626 BGB sollen hier nicht in Frage gestellt werden. Allerdings ist das Wort "Bindungstoleranz" missverständlich und irreführend. Es sollte besser von Unterstützung des Umgangs gesprochen werden, um die es faktisch geht. In der Verwendung der Begrifflichkeit "Bindungstoleranz" steckt schon ein latenter Appell an die ...