Eine entsprechende Diagnostik ist Voraussetzung für Rechtsansprüche in der Krankenbehandlung. Da solche Diagnosen manualisiert sind, müssen sie, wenn ihre Kriterien hinreichend erfüllt sind, nicht im Detail beschrieben werden. Damit erleichtern Diagnosen auch das Verständnis zwischen Medizin und Rechtswissenschaft. Allerdings kann es durchaus sein, dass z.B. im forensischen Kontext solche Krankheitsdiagnosen nicht ausreichend sind, um Gefährdungsmerkmale oder Rückfallwahrscheinlichkeiten bei bestimmten Täter:innengruppen zu beschreiben.
Noch ist im deutschen Sprachraum im Rahmen der Krankenversorgung die 10. Revision der Internationalen Klassifikation von Krankheiten das gängige diagnostische Manual. Allerdings erfolgt derzeit die Umstellung auf die ICD-11 (International Classification of Diseases, 11. Revision).
In den USA wird im Gesundheitskontext dagegen nicht die ICD der Weltgesundheitsorganisation, sondern das diagnostische statistische Manual der amerikanischen psychiatrischen Fachgesellschaft in der 5. Revision, also DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Revision) angewandt. Beide Diagnosemanuale werden regelmäßig durch wissenschaftliche Expert:innengremien revidiert.
Die Revisionen erfolgen aufgrund breiter Untersuchungen. Im Bereich der Familiengerichtsbarkeit macht es mit Blick auf Probleme in der Eltern-Kind-Beziehung aber durchaus Sinn, dass Sachverständige sich primär an den deskriptiven diagnostischen Codes wie QE52.0 "Caregiver child relationship problem" in Kapitel 06 der ICD-11 orientieren. So können im DSM-5 beispielsweise neben der tatsächlichen emotionalen Misshandlung (V995.51) auch Beziehungsprobleme zwischen Eltern und Kind (V61.20) sowie Belastungen der Kinder durch elterliche Beziehungsprobleme (V61.29) kodiert werden. Diese Begriffe sind jedoch keine Krankheitsdiagnosen, sondern Begleitumstände, welche in Sachverständigengutachten in der Ergebnisdarstellung, neben anderen Symptomen, Problemen und Einflussfaktoren für eine diagnostizierte Erkrankung oder Problematik benannt werden.
In der Empfehlung für Sachverständigengutachten im Bereich des Familienrechts des Österreichischen Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz findet sich auf Seite 20, im Kapitel 4.2.2 "Besondere Fragestellungen" folgende Anforderung: "Diagnosen müssen den Kriterien der aktuell gültigen Leitlinien (ICD-Codes) entsprechen und nachvollziehbar abgeleitet werden. Die Auswirkungen der psychischen Erkrankung sind im Kontext der Fragestellung zu diskutieren und abzuwägen." Die 2. Auflage der Mindestanforderungen an die Qualität von Sachverständigengutachten im Kindschaftsrecht, der Arbeitsgruppe Familienrechtliche Gutachten, unter der Koordination von Prof. Dr. Anja Kannegießer und Brigitte Meyer-Wehage, geht im Buchstaben "d" auf die im Einzelfall notwendige Diagnostik und Beurteilung fallrelevanter
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psychischer Störungen und/oder |
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neurologischer Beeinträchtigungen/Erkrankungen und/oder |
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Behinderungen und/oder |
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sonstiger Beeinträchtigungen |
bei Kindern und/oder Eltern ein. Gefordert wird eine Differenzierung bei jedem einzelnen Beteiligten und eine Differenzierung zwischen gesicherter Diagnose und Verdachtsdiagnose. Für eine solche Begutachtung bei vorliegenden psychischen Störungen, Entwicklungsstörungen, neurologischen Beeinträchtigungen, Erkrankungen oder Behinderungen, z.B. zur Abklärung des Erziehungs- und Förderbedarfs in solchen Fällen, aber auch zur Einschätzung von pathologischen Folgen nach Misshandlung und Missbrauch, sind spezifische klinische Kenntnisse nebst der Kenntnis diagnostischer Verfahren, nach diesen Standards erforderlich.