Hauptanwendungsfall der neuen Rechtsprechung sind nachehelich entstandene Unterhaltspflichten. Bis 2006 war es gefestigte Rechtsprechung des BGH, dass Unterhaltspflichten, die erst nach der Scheidung entstehen, keinen Einfluss mehr auf den Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen haben. Wie streng der BGH hier das Stichtagsprinzip eingehalten hat, zeigt am deutlichsten seine Entscheidung vom 25.11.1998. Hier rechnete der BGH ein nach Ausspruch, aber vor Rechtskraft der Ehescheidung geborenes Kind des Ehemannes aus seiner neuen Beziehung auf Grund des gewahrten Stichtages noch den ehelichen Lebensverhältnissen zu.
Die Kritik stellte hier dagegen darauf ab, dass sich in der Geburt des Kindes nicht die ehelichen Lebensverhältnisse, sondern das Scheitern der Ehe offenbare. Das ist richtig. Wie das Problem zu lösen ist, ist damit aber nicht gesagt. Vorgestellt hatten sich die Kritiker, dass nach Trennung entstandene Unterhaltspflichten als nicht prägend außer Ansatz bleiben. Der BGH hat nun aber den gegenteiligen Weg eingeschlagen und stellt auch nacheheliche Unterhaltslasten in die Bedarfsermittlung ein. Das ist konsequent. Die leitenden Gedanken haben wir bereits gegen das Stichtagsprinzip angeführt. Sie gelten auch für nacheheliche Unterhaltslasten und beruhen auf zwei Gesichtspunkten:
- einerseits darauf, dass der Unterhaltsberechtigte seinen Anspruch nach der relativen Methode vom Unterhaltspflichtigen ableitet und damit an dessen aktuelle Situation gebunden ist,
- andererseits darauf, dass der Unterhaltspflichtige durch die nacheheliche Zeugung eines Kindes nicht gegen seine unterhaltsrechtlichen Obliegenheiten verstößt.
Bislang noch nicht ausdrücklich entschieden ist die Frage, ob in die Bedarfsermittlung auch der zweite Ehegatte einzubeziehen ist. Da der BGH allerdings in seiner Entscheidung vom 15.3.2006 vor- und gleichrangige Unterhaltspflichten genannt hat, gilt dies spätestens seit dem 1.1.2008 für den Unterhalt des zweiten Ehegatten und folgerichtig auch für den nichtehelichen Elternteil. Es ist damit eingetreten, was von vielen für geradezu blasphemisch gehalten worden ist (und von einzelnen noch wird), dass nämlich die Lebensverhältnisse der geschiedenen ersten Ehe durch den Unterhalt der zweiten Ehefrau "geprägt" werden sollen. Der Begriff der Prägung betrifft indessen nach richtiger Ansicht nur die Ableitung eines gegenüber den individuellen eigenen Verhältnissen höheren Bedarfs aus den Verhältnissen des anderen Teils. Werden dessen Verhältnisse enger, so gilt dies auch für den Unterhaltsberechtigten. Der BGH bewegt sich demnach auch hier konsequent in seinem Ansatz, dass den Unterhaltspflichtigen treffende Einkommensverschlechterungen nur dann unberücksichtigt bleiben, wenn diesem vorzuwerfen ist, dass er sich nicht entsprechend seinen unterhaltsrechtlichen Obliegenheiten verhalten hat oder aber solche Entscheidungen getroffen hat, deren Folgen er aus anderen Gründen allein zu tragen hat. Dass die zweite Ehe nicht dazu gehört und nicht (mehr) unterhaltsrechtlich missbilligt wird, dürfte nach der Unterhaltsrechtsreform 2007 nicht mehr ernstlich bezweifelt werden. Wie wenig geschichtsbewusst hier die Kritik argumentiert, zeigt sich daran, dass der Gesetzgeber damit zu einem Rechtszustand zurückgekehrt ist, der insoweit schon vor der Eherechtsreform 1976 bestand und von dem – wohlgemerkt – sogar der schuldig geschiedene Unterhaltspflichtige profitierte.
Ob auch mit der neuen Unterhaltspflicht verbundene Vorteile (so der Splittingvorteil) einzubeziehen sind oder darüber hinausgehend auch andere nacheheliche Einkommensverbesserungen (Karrieresprung), ist fraglich. Beim hinzugekommenen Ehegattenunterhalt scheint die Berücksichtigung sämtlichen Einkommens erwägenswert, wenn dabei die Grenze des Unterhaltsbedarfs ohne die 2. Eheschließung und ohne das nichtprägende Einkommen eingehalten wird.