Abschließend ist die Frage zu beantworten, ob der BGH mit seiner Auffassung von den wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen nun den Boden des Gesetzes verlassen hat, vor allem im Hinblick darauf, dass die Unterhaltsreform den Maßstab nach § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB unangetastet gelassen hat.
Diese Frage ist nur im Ansatz berechtigt. Sie ist spätestens bei näherer Betrachtung der Unterhaltsreform und ihres Gesamtzusammenhangs zu verneinen. § 1578 BGB ist Ausdruck eines gesetzlichen Gedankens, der sich nicht nur an dieser Stelle niedergeschlagen hat. So waren die Eigenverantwortung (§ 1569 BGB) ebenso wie die Erwerbspflicht (§ 1574 BGB) nach der bis 2007 gültigen Rechtslage deutlich stärker an den ehelichen Lebensverhältnissen orientiert als nach der Unterhaltsreform 2007. Nach § 1574 alter Fassung war die Erwerbstätigkeit nur angemessen, wenn sie den ehelichen Lebensverhältnissen entsprach. Nach § 1574 neuer Fassung ist sie nur dann nicht angemessen, wenn sie nach den ehelichen Lebensverhältnissen unbillig wäre. § 1569 betont bewusst die nacheheliche Selbstverantwortung die im BGB ursprünglich gar nicht verankert war.
Ein wesentlicher Punkt war aber nicht zuletzt die Rangfolge. Hier und nur hier kam überhaupt die Vorstellung der Eherechtsreform 1976 zum Ausdruck, dass sich der einmal gewesene Lebensstandard der ersten Ehe durch eine nachfolgende zweite Eheschließung nicht verschlechtern durfte. Der Standard der zweiten Ehe wurde vom Gesetzgeber wesentlich sparsamer angesetzt und dem Unterhaltspflichtigen ganz bewusst erschwert, eine Hausfrauenehe zu schließen und weitere Kinder zu bekommen.
Nach der neuen gesetzlichen Regelung sieht das nun anders aus. Indem er den Kindesunterhalt und Kinderbetreuungsunterhalt nunmehr grundsätzlich vorrangig gestellt hat, ist der Gesetzgeber auch hier von der dauerhaften Lebensstandardgarantie abgerückt, um die zweite Eheschließung nicht zu beeinträchtigen.
Schließlich enthält auch die neue Befristungsmöglichkeit eine Hinwendung zur individuellen und eher nachteilsbezogenen Unterhaltsfestsetzung ("negatives statt positives Interesse").
Man wird demnach nicht maßgeblich darauf abstellen können, dass § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB von der Reform unberührt geblieben ist. Vielmehr ergibt sich aus dem Zusammenhang, dass die Eigenverantwortung deutlich stärker betont wird (§§ 1569, 1574, 1578b BGB) und an anderer Stelle ein Vertrauensschutz gegenüber Beeinträchtigungen aus der späteren Lebensgestaltung des Unterhaltspflichtigen vom Gesetz nicht mehr gewährleistet wird (§§ 1582, 1609 BGB – Rang).
In diesem Zusammenhang muss auch § 1578 BGB gesehen werden. Würde etwa der Bedarf der zweiten Ehefrau aus dem Einkommen berechnet werden, wie er sich nach Abzug des Geschiedenenunterhalts aus erster Ehe ermittelt, so würde das gesetzgeberische Anliegen, die Gründung neuer Familien nicht mehr zu erschweren, ausgehebelt. Es erscheint daher bei Beachtung der gesetzlichen Regelungszusammenhänge nur konsequent, wenn die Rechtsprechung zur bedarfsbestimmenden Wirkung nachehelicher Unterhaltspflichten nicht nur auf den Kindesunterhalt, sondern auch für den Unterhalt des zweiten Ehegatten Anwendung findet.
Darin liegt auch kein Systembruch mit den ehelichen Lebensverhältnissen in ihrer bisherigen Ausprägung. Deren Bestimmung lässt sich vielmehr so charakterisieren, dass sie eine Einkommensverminderung immer dann auf die Bedarfsermittlung durchschlagen ließ, wenn diese für den Unterhaltspflichtigen zwangsläufig war oder aber auf dessen gesetzlich gebilligter Entscheidung beruhte. Dass dazu nunmehr auch gesetzliche Unterhaltspflichten gehören, die erstmals nach Rechtskraft der Scheidung entstehen, ist nicht mehr als eine konsequente Weiterentwicklung der Rechtsprechung, die schon in der Abkehr von der Anrechnungsmethode zum Ausdruck gekommen ist.
Hätte man unter diesen Umständen vom Gesetzgeber erwarten können, dass er § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB einen anderen Inhalt gibt, um die Berücksichtigung geänderter Verhältnisse zu ermöglichen?
Die Frage ist zu verneinen. Dagegen spricht schon, dass dem Gesetzgeber ein anderer geeigneter Bemessungsmaßstab gar nicht zur Verfügung stand. Auf den angemessenen Unterhalt konnte er nicht abstellen, ohne die Lebensstandardgarantie ganz aufzugeben. Dass der Unterhaltsberechtigte wenigstens zeitweise – je nach den Umständen des Einzelfalles auch länger andauernd – in den Genuss des ehelichen Lebensstandards kommen soll, sollte vom Reformgesetz nicht geändert werden. Wenn der Unterhaltsberechtigte sich etwa nach langer Ehedauer und Kindererziehung darauf berufen kann, dass er zum beruflichen Erfolg des Unterhaltspflichtigen beigetragen hat, kann ein unbefristeter Unterhalt nach den ehelichen Lebensverhältnissen weiterhin begründet sein. Daran hat auch der BGH nichts ändern wollen.
Soll es bei der relativen Herleitung des Unterhaltsanspruchs verbleiben, behält auch das Stichtagsprinzip seine Rechtfertigung, die – zum Zweck der Begrenzung des Unterhalts – darin besteht, dass ein...