Geringfügig ergänzte und aktualisierte Fassung eines Vortrags, den der Verf. am 2. Mai 2008 auf dem Deutschen Anwaltstag in Berlin vor der Arbeitsgemeinschaft für Familienrecht des Deutschen Anwaltvereins gehalten hat. Die zu den behandelten Fragen inzwischen ergangene BGH-Rechtsprechung ist in den Fußnoten aufgeführt, außerdem einzelne neuere Literaturnachweise.
Einführung
Man könnte die Frage, ob wir die ehelichen Lebensverhältnisse noch brauchen, als gewagt ansehen. Sagt doch das Gesetz in § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB ausdrücklich, dass das Maß des Unterhalts sich nach den ehelichen Lebensverhältnissen bestimmt. Die Gesetzesvorschrift blieb insoweit von der am 1.1.2008 in Kraft getretenen Unterhaltsrechtsreform unangetastet. Die Fragestellung verweist auf die neuere Rechtsprechung des BGH zu den wandelbaren Lebensverhältnissen, die vor allem wegen ihres angeblich "mangelnden Ehebezuges" der Bedarfsermittlung kritisiert worden ist.
Sieht man einmal von der zeitlichen Komponente ab, so gewährt der Unterhaltsmaßstab der ehelichen Lebensverhältnisse in § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB dem wirtschaftlich schwächeren Ehegatten jedenfalls im Ausgangspunkt eine gesetzliche Lebensstandardgarantie. Das Gegenmodell ist der angemessene Lebensbedarf nach § 1578b Abs. 1 S. 1 BGB, der nur den unabhängig von der Ehe erworbenen Status sichert und grundsätzlich allein die auf Grund ehebedingter Nachteile entstandene Einkommenslücke ausfüllt.
Im Grundsatz soll der wirtschaftlich schwächere Ehegatte nach dem Willen des Gesetzgebers an dem während der Ehe erworbenen sozialen Status auch nach der Scheidung teilhaben können. Die Garantie bezieht sich auf einen Zustand, der einmal bestanden haben muss oder wenigstens so angelegt gewesen sein muss, dass sein späteres Eintreten nach der Scheidung vorhersehbar war und sich bereits in der Lebensführung während der Ehe niedergeschlagen hat.
Die Lebensstandardgarantie erfordert auf den ersten Blick eine zeitliche Eingrenzung. Aus diesem Grund ist sie mit dem Stichtagsprinzip verknüpft worden, nach dem für den zu garantierenden Lebensstandard auf den Zeitpunkt der Ehescheidung abzustellen ist.
Der Bundesgerichtshof hat nun in seiner jüngeren Rechtsprechung anscheinend einen Paradigmenwechsel vollzogen, der – wie es heißt – das Stichtagsprinzip in den Bereich der Rechtsgeschichte verweisen soll. Andere haben dem widersprochen und halten die ehelichen Lebensverhältnisse für zu Unrecht totgesagt. Die folgende Betrachtung wird zeigen, dass die ehelichen Lebensverhältnisse nach wie vor Bedeutung haben, die Kritik an der Rechtsprechung des BGH aber dennoch nicht berechtigt ist.
Dr. Frank Klinkhammer, Richter am BGH, Karlsruhe/Düsseldorf
A. Eheliche Lebensverhältnisse und Stichtagsprinzip
Eine gesetzliche Regelung der ehelichen Lebensverhältnisse findet sich in §§ 1353 bis 1362 BGB. Die Ehegatten sind einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet. Sie schulden der Familie Unterhalt in Form von Erwerbstätigkeit oder Haushaltsführung. Und sie sollen aufeinander Rücksicht nehmen. Mit der Scheidung finden wie die Ehe auch diese Pflichten ihr Ende. Nur wenige Pflichten bestehen im Rahmen der nachwirkenden Solidarität auch nach der Scheidung fort.
Wenn die ehelichen Lebensverhältnisse im Hinblick auf den nachehelichen Unterhalt dennoch fortgeschrieben werden, muss sich eine auf den Stichtag der Scheidung bezogene Sichtweise sogleich daran stoßen, dass das Leben auch nach der Scheidung weitergeht und sich bekanntlich sogar sehr vielgestaltig entwickeln kann. Es verwundert demnach kaum, dass die Gesetzesbestimmung zu erheblichen Abgrenzungsproblemen geführt hat, wobei man sich allerdings fragen kann, ob sich die Probleme eher aus einer unglücklichen, weil unbestimmten Gesetzesformulierung ergeben oder aber aus ihrem einseitigen Verständnis durch die bisher herrschende Praxis.
Der Begriff der "ehelichen Lebensverhältnisse" gem. § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB wurde durch die Eherechtsreform 1976 eingeführt. Bei Inkrafttreten des BGB war der Unterhaltsmaßstab noch der "standesmäßige Unterhalt" (§ 1578 Abs. 1 BGB-1900). Anschließend wurde der nacheheliche Unterhalt in den Ehegesetzen von 1938 (§ 66) und 1946 (§ 58) geregelt. Nach beiden Gesetzen diente als Maßstab der "nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten angemessene Unterhalt".
Nach allen genannten Vorläufervorschriften ging die Praxis davon aus, dass für die Beurteilung zwar grundsätzlich an den Zeitpunkt der Scheidung anzuknüpfen war, dass aber auf der anderen Seite bei sich verändernden Verhältnissen eine Anpassung des Unterhalts erforderlich war. In den Beratungen des BGB war zwar eine Festschreibung der Unterhaltsrente erwogen worden, um die Notwendigkeit wiederholter Abänderungsverfahren nach geschiedener Ehe zu vermeiden. Die 2. Kommission hielt dies aber allenfalls dann für gerechtfertigt...