1. Wandel der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse
Die Rechtsprechung zum Unterhaltsrecht muss zunehmend komplexeren Lebensverhältnissen mit vielfältigen Unterhaltsbeziehungen Rechnung tragen. Während nach dem Inkrafttreten des 1. Eherechtsreformgesetz im Gerichtsalltag über viele Jahre das traditionelle Modell von Alleinernährer und kinderbetreuender Hausfrau überwog, sind die Gerichte heute häufig mit Konstellationen befasst, in denen die Unterhaltsberechtigten aus verschiedenen Herkunftsfamilien stammen, Geschwister nicht zwangsläufig bei nur einem Elternteil leben und neue Familien mit kleineren Kindern andere Unterhaltsbeziehungen belasten. Zudem sind die Einkommensverhältnisse weitaus instabiler, als es noch in den 90er-Jahren der Fall war. Rückwirkend betrachtet waren die Annahmen des Gesetzes zu den tatsächlichen Grundlagen des nachehelichen Unterhalts zu optimistisch.
2. Relativierung des Bedarfs durch sich wandelnde Lebensverhältnisse?
Angesichts der sich dynamisch entwickelnden Lebensverhältnisse mag es daher zweckmäßig erscheinen, der zunehmenden Zahl an Berechtigten und den schwankenden Einkommensverhältnissen sogleich bei der Bemessung des jeweiligen Bedarfs Rechnung zu tragen (relativer Bedarf). Die Rechtsprechung zu den "wandelbaren Lebensverhältnissen" beschränkt die Beurteilung auf die gegenwärtigen Verhältnisse und kann daher entlastend in gerichtlichen Verfahren wirken, wenn der Schwerpunkt der Auseinandersetzung das real verfügbare oder fiktiv zuzurechnende Einkommen betrifft und frühere Lebensumstände ausgeblendet werden. Nach dem geltenden System des Unterhaltsrechtsrechts, das sich auf das Prinzip einer Deckung des jeweils vollen individuellen Bedarfs gründet, ist diese Entwicklung gleichwohl kritisch zu sehen.
3. Zielvorstellung des Gesetzgebers beim Maßstab "eheliche Lebensverhältnisse"
Im Vordergrund steht die seit 1977 unveränderte Fassung des Gesetzes. Das Gesetz bindet die Bemessung des Bedarfs an die "ehelichen Lebensverhältnisse". Mit diesem Begriff verband der Gesetzgeber die Vorstellung, dass ihnen eine gewisse Dauer innewohnt und für sie grundsätzlich der Zeitpunkt der Ehescheidung bestimmend sein soll (BT-Drucks 7/650, S. 136). Auch wenn das Gesetz keine starre Festlegung verlangt, sondern gemäß der früheren Rechtsprechung bereits in der Ehezeit angelegte Entwicklungen bei der Bemessung des Bedarfs berücksichtigt werden können, vollzieht das Gesetz mit der Ehescheidung eine Zäsur. Diese Grenze ist von der Rechtsprechung zu beachten. So hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass es
Zitat
"unzulässig [sei] … , wenn man … unterstellen wollte, mit einer eingegangenen Ehe sei zugleich deren mögliches Scheitern sowie eine darauf folgende neue Ehe mitgedacht"
und würde auch deren Einkommensverhältnisse prägen (BVerfG, Beschl. v. 7.10.2003 – 1 BvR 246/93 und 2298/94, FamRZ 2003, 1821). Diese Erwägungen sind nicht auf die der neuen Ehe zugewiesene steuerliche Entlastung oder andere, erstmals in dieser Ehe erzielte Vorteile beschränkt. Es dürfte in gleicher Weise unzulässig sein, die mit einer nachfolgenden Beziehung verbundenen Belastungen bereits bei der Bemessung des Bedarfs mit den früheren ehelichen Lebensverhältnissen in Verbindung zu bringen. Diese Gründe sollten daher in gleicher Weise gelten, wenn nach einer Ehescheidung neue, in keinem Zusammenhang mit der früheren Ehe stehende Entwicklungen das Einkommen belasten.
Der Gesetzgeber hat bei allen nach 1977 erfolgten Gesetzesänderungen an der ursprünglichen Fassung des § 1578 Abs. 1 S. 1 BGB festgehalten. Selbst beim Unterhaltsrechtsänderungsgesetz von 2007 hat er keinen Anlass für eine Änderung oder Präzisierung der Vorschrift gesehen, obwohl sich der grundlegende Richtungswechsel in der Rechtsprechung bereits seit dem Urteil des BGH vom 15.3.2006 (XII ZR 30/04, FamRZ 2006, 683) abzeichnete. Im Gesetzgebungsverfahren finden sich keine Anhaltspunkte, die auf eine neue inhaltliche Interpretation des Wortlautes hindeuten. Vielmehr sah der Gesetzgeber in einer stärkeren Betonung wirtschaftlicher Eigenverantwortung und der erleichterten Billigkeitskorrektur durch § 1578b BGB ein ausreichendes Korrektiv für einen nach den ehelichen Lebensverhältnissen bemessenen – und bei wertender Betrachtung zu hohen – Bedarf. Die Differenzierung zwischen dem Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen und einem hiervon unabhängigen Bedarf gemäß der eigenständig erreichbaren Lebensstellung des Berechtigten hat er dabei vorausgesetzt.
Das Gesetz verliert seine Konturen, wenn die Rechtsprechung bereits bei der Bemessung des Bedarfs zunehmend nacheheliche Entwicklungen einbezieht, denen ein innerer Zusammenhang mit den gemeinsamen Lebensverhältnissen der Eheleute fehlt (s. ausführlich Brudermüller, Eheliche Lebensverhältnisse und Drittelmethode, FF 2010, 134, 137). Die bei Anwendung der Drittelmethode erfolgende Einbeziehung einer nach der Scheidung begründeten Unterhaltspflicht gegenüber einem neuen Ehegatten in die Lebensverhältnisse der geschiedenen Ehe widerspricht zudem dem Recht, wonach eine weitere Ehe bei bestehenden ehelichen Lebensverhältnissen als Bigamie nicht anzuerkennen ist. Die Diskrepanzen zwischen Gesetzeswortlaut und Rechts...