Zu der Verfassungsbeschwerde 1 BvR 918/10 nimmt der Deutsche Familiengerichtstag wie folgt Stellung:
Einführung
Kernproblem der Verfassungsbeschwerde ist die Anwendung der "Drittelmethode" bei der Bemessung des nachehelichen Unterhaltsbedarfs nach den ehelichen Lebensverhältnissen. Nach Auffassung des Deutschen Familiengerichtstags e.V. sprengt die Auslegung des § 1578 BGB mit dieser Methode den vom Gesetzgeber nach der Wortwahl gewollten Bezug des nachehelichen Bedarfs zu den tatsächlich gelebten Lebensverhältnissen in der geschiedenen Ehe zugunsten einer Anknüpfung an die aktuellen Verhältnisse und vermengt unzulässig die gesetzlich getroffene Unterscheidung zwischen dem Bedarf des Unterhaltsberechtigten und der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten.
I. Entwicklung der Rechtsprechung
1. Parameter des Unterhaltsrechts
Das Unterhaltsrecht des BGB beruht auf drei im Gesetz verankerten Elementen:
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dem Bedarf des Unterhaltsberechtigten, |
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seiner Bedürftigkeit und |
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der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen. |
Dieses Prinzip liegt einheitlich allen Unterhaltsansprüchen zugrunde. Für den Anspruch auf nachehelichen Unterhalt ist es in den §§ 1578, 1577 und 1581 BGB gesetzlich normiert.
2. Bestimmung des individuellen Bedarfs
Eine Bestimmung des nach der individuellen Lebensstellung angemessenen Bedarfs findet sich beim Kindesunterhalt auf der Basis des gesetzlichen Mindestunterhalts in der Düsseldorfer Tabelle, die abhängig von Einkommensgruppe und Alter des Kindes einen Betrag festlegt bzw. für Studenten einen festen Satz vorgibt. Bei Ansprüchen auf Unterhalt wegen der Betreuung nichtehelicher minderjähriger Kinder (§ 1615l Abs. 2 BGB) ist Ausgangspunkt das zuvor vom Berechtigten erzielte Einkommen. Beim Elternunterhalt wird der Bedarf entweder durch die sozialrechtlichen Regelleistungen oder die konkreten Kosten vorgegeben. Hingegen orientiert sich die Rechtsprechung beim Anspruch auf Ehegattenunterhalt seit langem an der Höhe des für den Unterhalt verfügbaren Einkommens und bemisst den Bedarf in der weit überwiegenden Zahl der Fälle anhand einer Quote vom Einkommen bzw. der Einkommensdifferenz (BGH, Urt. v. 13.6.1979 – IV ZR 189/77, FamRZ 1979, 692; Urt. v. 13.6.2001 – XII ZR 343/99, FamRZ 2001, 986). Lediglich bei sehr guten Einkommensverhältnissen hat der Unterhaltsgläubiger seinen Bedarf konkret darzulegen. Seit kurzem hat der BGH seine Rechtsprechung in einem weiteren Punkt revidiert und legt bei beengten Verhältnissen nunmehr einen Mindestbedarf für Ehegatten und für nichteheliche kinderbetreuende Elternteile in Höhe des sozialrechtlichen Existenzminimums zugrunde (BGH, Urt. v. 16.12.2009 – XII ZR 50/08, FamRZ 2010, 357; Urt. v. 13.1.2010 – XII ZR 123/08, FamRZ 2010, 444) – ebenfalls eine Form der konkreten Bedarfsbestimmung.
3. Verknüpfung der Bedarfsbemessung mit sich ändernden Lebensverhältnissen
Bei durchschnittlichen Verhältnissen lässt sich nach einer Trennung durch den Quotenunterhalt zwar nicht ein den vorherigen Lebensverhältnissen entsprechender Lebensstandard aufrechterhalten. Die Rechtsprechung war gleichwohl bestrebt, zur Bestimmung des Bedarfs an die bei Rechtskraft der Ehescheidung bestehenden Lebensverhältnisse anzuknüpfen (prägende Lebensverhältnisse; vgl. BGH, Urt. v. 24.11.1982 – IVb ZR 326/81, FamRZ 1983, 144; Urt. v. 18.4.1984 – IVb ZR 80/82, FamRZ 1984, 769). Diese stichtagsbezogene Betrachtung entsprach der Vorstellung des Gesetzgebers (BT-Drucks 7/650, S. 136). Sie wurde jedoch schon immer dadurch gelockert, dass spätere Veränderungen dann noch zu den prägenden Verhältnissen zählten, wenn diese zum Zeitpunkt der Ehescheidung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten waren und die Eheleute sich in ihrem Lebenszuschnitt hierauf einrichten konnten (BGH, Urt. v. 18.3.1982 – IVb 23/01, FamRZ 1982, 1045; Urt. v. 21.4.1982 – IVb ZR 741/80, FamRZ 1982, 684 – Beförderung). Als prägende Belastung der ehelichen Lebensverhältnisse galten u.a. die durch die Trennung unvermeidbare Besteuerung nach der Grundtabelle (BGH, Urt. v. 11.5.1988 – IVb ZR 42/87, FamRZ 1988, 817), ein unabwendbarer Einkommensrückgang nach der Scheidung (BGH, Urt. v. 16.6.1993 – XII ZR 49/92, FamRZ 1993, 1304; Urt. v. 29.1.2003 – XII ZR 92/01, FamRZ 2003, 590) sowie eine vor Rechtskraft der Ehescheidung entstandene weitere Unterhaltspflicht (BGH, Urt. v. 20.10.1993 – XII ZR 89/92, FamRZ 1994, 87; Urt. v. 25.11.1999 – XII ZR 98/97, FamRZ 1999, 367), nicht jedoch der Kindesunterhalt erst später geborener oder adoptierter Kinder (BGH, Urt. v. 25.2.1987 – IVb 36/86, FamRZ 1987, 456).
4. Zurechnung nachehelicher Erwerbseinkünfte zu den ehelichen Lebensverhältnissen
Die "Surrogat-Rechtsprechung", die auch ein nach Trennung bzw. Ehescheidung erstmals erzieltes Einkommen als Surrogat an die Stelle der früheren Hausarbeit setzt und damit die nachteiligen Folgen der Anrechnung dieses Einkommens auf einen zu gering bemessenen Bedarf vermeidet (BGH, Urt. v. 13.6.2001 – XII ZR 343/99, FamRZ 2001, 986), hat die Bindung an die tatsächlichen Lebensverhältnisse weitgehend gelöst. Seitdem gilt nicht nur ein erstmals nach der Scheidung erzielter Arbeitslohn, sondern nahezu jeder Verdienst als eine bereits in den ehelichen Lebensverhältnissen angelegte Entwicklung. Der Bedarf wird nunmehr regelmäßig nach der Diff...