GG Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3; BGB § 1578 Abs. 1 S. 1
Leitsatz
Die zur Auslegung des § 1578 Abs. 1 Satz 1 BGB entwickelte Rechtsprechung zu den "wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen" unter Anwendung der Berechnungsmethode der so genannten Dreiteilung löst sich von dem Konzept des Gesetzgebers zur Berechnung des nachehelichen Unterhalts und ersetzt es durch ein eigenes Modell. Mit diesem Systemwechsel überschreitet sie die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung und verletzt Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG).
BVerfG, Beschl. v. 25.1.2011 – 1 BvR 918/10 (OLG Saarbrücken, AG Saarlouis)
1 Aus den Gründen:
A. [1] Die Verfassungsbeschwerde betrifft die vom BGH zur Auslegung des § 1578 Abs. 1 Satz 1 BGB entwickelte neue Rechtsprechung zu den "wandelbaren Lebensverhältnissen" unter Anwendung der Berechnungsmethode der so genannten Dreiteilung zur Feststellung des nachehelichen Unterhaltsbedarfs.
I. [2] 1. a) Das Maß nachehelich zu gewährenden Unterhalts war in der Vergangenheit wiederholt gesetzlichen Änderungen unterworfen. Während zunächst nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum 1.1.1900 gem. § 1578 BGB a.F. nach der Scheidung standesgemäßer Unterhalt zu gewähren war, der sich gem. § 1610 BGB a.F. nach der Lebensstellung des Bedürftigen richtete, war nach den Bestimmungen des zum 1.8.1938 in Kraft getretenen Ehegesetzes nach der Scheidung einer Ehe der nach den ehelichen Lebensverhältnissen angemessene Unterhalt geschuldet. Mit dem Ersten Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts (1. EheRG) vom 14.6.1976 (BGBl I S. 1421) wurde das nacheheliche Unterhaltsrecht neu geordnet. Dabei wurde das Maß des nachehelichen Unterhalts in § 1578 Abs. 1 Satz 1 BGB geregelt. Es richtete sich in Anlehnung an die Bestimmungen des Ehegesetzes – bis heute unverändert – nach den ehelichen Lebensverhältnissen. Aus den Gesetzgebungsmaterialien geht hervor, dass für deren Bestimmung grundsätzlich die individuellen Lebensverhältnisse der Ehe zum Zeitpunkt der Rechtskraft der Scheidung maßgeblich sein sollten. Damit wollte der Gesetzgeber den Fällen gerecht werden, in denen durch die gemeinsame Leistung der Eheleute ein höherer sozialer Status erreicht worden war, an dem beide Eheleute nach der Auflösung ihrer Ehe einen gleichwertigen Anteil erhalten sollten (BR-Drucks 266/71, S. 79).
[3] Nach dem in § 1569 BGB a.F. normierten Grundsatz der Eigenverantwortung, der durch das Prinzip der nachwirkenden ehelichen Mitverantwortung allerdings eingeschränkt wurde, setzte die Gewährung nachehelichen Unterhalts zunächst das Bestehen bestimmter, gesetzlich umschriebener Bedürfnislagen voraus. Sodann war nach § 1581 BGB eine Prüfung der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen vorgesehen. Für den Fall, dass der Unterhaltspflichtige nicht in der Lage war, allen Unterhaltsberechtigten Unterhalt zu leisten, wurde in § 1582 BGB a.F. sowie in § 1609 BGB a.F. geregelt, dass Unterhaltsansprüche des geschiedenen Ehegatten im selben Rang wie Unterhaltsansprüche minderjähriger und ihnen nach § 1603 Abs. 2 Satz 2 BGB a.F. gleichgestellter volljähriger Kinder standen und den Unterhaltsansprüchen nachfolgender Ehepartner grundsätzlich vorgingen.
[4] b) Mit dem am 1.1.2008 in Kraft getretenen Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts vom 21.12.2007 (BGBl I S. 3189) hat der Gesetzgeber das Unterhaltsrecht erneut reformiert und an die geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse sowie den eingetretenen Wertewandel angepasst.
…
[18] c) Ziel der Reform ist neben der Vereinfachung des Unterhaltsrechts insbesondere die Stärkung des Kindeswohls sowie die wirtschaftliche Entlastung so genannter Zweitfamilien gewesen (BT-Drucks 16/1830, S. 1 ff.). Dafür hat der Gesetzgeber die Schwächung der unterhaltsrechtlichen Position geschiedener Ehegatten in Kauf genommen.
[19] Der Stärkung des Kindeswohls soll im Mangelfall die Einräumung des ersten Ranges der Unterhaltsansprüche minderjähriger und ihnen gem. § 1603 Abs. 2 Satz 2 BGB gleichgestellter Kinder vor sämtlichen Unterhaltsansprüchen anderer Unterhaltsberechtigter (§ 1609 Nr. 1 BGB) sowie die Einräumung des zweiten Ranges der Unterhaltsansprüche Kinder betreuender Elternteile (§ 1609 Nr. 2 BGB) dienen. Die Änderung der Rangregelung hat der Gesetzgeber damit begründet, dass die bestehende Privilegierung des ersten Ehegatten unter dem Aspekt des Kindeswohls nicht zu rechtfertigen sei. Künftig zähle nicht mehr die zeitliche Priorität der Eheschließung, sondern allein die Schutzbedürftigkeit des jeweiligen Berechtigten; der geschiedene Ehepartner genieße keinen Vertrauensschutz dahin, dass sich der Kreis der unterhaltsberechtigten Personen nach der Scheidung nicht mehr erweitere. Künftig solle im Falle der Konkurrenz zwischen mehreren Ehegatten das Gleiche wie bei der Konkurrenz der Unterhaltsansprüche mehrerer Kinder gelten, die in diesem Fall eine Schmälerung des auf sie entfallenden Unterhaltsanteils hinnehmen müssten (BT-Drucks 16/1830, S. 22 ff.).
[20] Der wirtschaftlichen Entlastung so genannter...