BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 27.12.2022 – 1 BvR 1943/22

1. Der Maßstab für die verfassungsrechtliche Überprüfung von einen Umgangsausschluss anordnenden fachgerichtlichen Entscheidungen ist nicht stets gleich. Er bestimmt sich im Grundsatz vor allem danach, ob der Ausschluss des Umgangs Lebensverhältnisse betrifft, in denen das betroffene Kind ohnehin bereits von beiden Elternteilen getrennt lebt oder nicht. (Rn 13)

2. Steht eine langfristige Trennung des Kindes von beiden Eltern im Raum – wie bei einem Umgangsausschluss der Eltern im Verhältnis zu ihrem fremduntergebrachten Kind –, ist der fachgerichtlich angeordnete Umgangsausschluss an dem strengeren Prüfungsmaßstab des Art. 6 Abs. 3 GG zu messen (vgl. BVerfGK 20, 135 <142 f.>). Es gelten dann Anforderungen, die denjenigen für einen Entzug der elterlichen Sorge gegenüber beiden Elternteilen entsprechen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.5.2022 – 1 BvR 326/22, Rn 13). (Rn 15)

3. Verfassungsrechtlich kommt es bei der Beurteilung eines Eingriffs in das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG insoweit darauf an, dass die Gerichte den Sachverhalt dergestalt ermittelt haben, dass eine möglichst zuverlässige Tatsachengrundlage für eine am Wohl des Kindes orientierte Entscheidung vorliegt. Deutliche Fehler bei der Feststellung des Sachverhalts liegen jedenfalls dann vor, wenn nicht hinreichend erkennbar wird, auf welche Erkenntnisgrundlage die Gerichte ihre tatsächlichen Annahmen stützen oder wenn die Erkenntnisquellen des Gerichts zu einer entscheidungserheblichen Frage inhaltlich voneinander abweichen und das Gericht in einem solchen Fall nicht weitere Erkenntnisquellen nutzt oder nicht deutlich macht, aus welchem Grund es einer der voneinander abweichenden Erkenntnisquellen folgt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.2.2022 -1 BvR 1655/21, Rn 10). (Rn 17)

4. Auf der Grundlage der vorgelegten Unterlagen und der Begründung der Verfassungsbeschwerde sind im Sinne des strengen Prüfungsmaßstabs deutliche Fehler des Oberlandesgerichts bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts nicht erkennbar. (Rn 18) Die Entscheidung, den Umgang mit der Tochter für zwei Jahre auszuschließen, verletzt die betroffenen Eltern nicht in ihrem Elternrecht aus Art 6 Abs. 2 S 1 GG, weil sie sich auf aussagekräftige und belastbare Nachweise für eine Traumatisierung des Kindes im elterlichen Haushalt und für eine konkrete Gefährdung des Kindes bei jedweden Umgangskontakten mit den Eltern während der Traumatherapie des Kindes stützt. (Rn 18) (Rn 19) (Rn 20)

BVerfG, Nichtannahmeeschl. v. 15.11.2022 – 1 BvR 1667/22

1. Begehren Eltern die Rückführung ihres in einer Pflegefamilie lebenden Kindes, müssen bei der Kindeswohlprüfung die Tragweite der Trennung des Kindes von seiner Pflegefamilie und die Erziehungsfähigkeit der Ursprungsfamilie auch im Hinblick auf ihre Eignung berücksichtigt werden, die negativen Folgen einer Traumatisierung des Kindes gering zu halten. Das Kindeswohl gebietet es, die neuen gewachsenen Beziehungen des Kindes zu seinen Pflegepersonen zu bedenken und das Kind aus seiner Pflegefamilie lediglich herauszunehmen, wenn die körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen des Kindes als Folge der Trennung von den bisherigen Bezugspersonen unter Berücksichtigung der Grundrechtsposition des Kindes noch hinnehmbar sind (BVerfG, Beschl. v. 13.7.2022 – 1 BvR 580/22, Rn 11 m.w.N.). (Rn 17)

2. Allerdings folgt aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, dass Pflegeverhältnisse nicht in einer Weise verfestigt werden dürfen, die in nahezu jedem Fall zu einem dauerhaften Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie führte. Da eine Rückkehr zu den Eltern auch nach längerer Fremdunterbringung – soweit Kindeswohlbelange nicht entgegenstehen – möglich bleiben muss, dürfen die mit einem Wechsel der Hauptbezugspersonen immer verbundenen Belastungen eine Rückführung nicht automatisch dauerhaft ausschließen (vgl. BVerfGE 68, 176 <191>; BVerfG, Beschl. v. 22.5.2014 – 1 BvR 2882/13, Rn 31; Beschl. v. 13.7.2022 – 1 BvR 580/22, Rn 11, jeweils m.w.N.). (Rn 17)

3. Die Trennung des Kindes von seinen Eltern darf nur unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aufrechterhalten werden (vgl. BVerfGE 60, 79 <89>; BVerfG, Beschl. der 1. Kammer des Ersten Senats v. 22.3.2014 – 1 BvR 2882/13, Rn 33). An die Verhältnismäßigkeit der Aufrechterhaltung der Trennung sind besonders strenge Anforderungen zu stellen, wenn die Voraussetzungen des § 1666 Abs. 1 S. 1 BGB bei der Wegnahme des Kindes nicht vorlagen (vgl. BVerfGE 68, 176 <189>). Strengere Anforderungen gelten auch dann, wenn die ursprünglich durch § 1666 BGB begründete Trennung des Kindes von seinen Eltern nicht auf einer missbräuchlichen Ausübung der elterlichen Sorge, sondern auf einem unverschuldeten Elternversagen beruhte (vgl. BGH, Beschl. v. 22.1.2014 – XII ZB 68/11, Rn 22). Die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verschärfen sich zudem, wenn die Eltern (mittlerweile) grundsätzlich als erziehungsgeeignet anzusehen sind und den Kindern in deren H...

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