Jochem Schausten
In seinem berühmten Essay "Politik als Beruf" nannte Max Weber die Leidenschaft, das Augenmaß und das Verantwortungsgefühl als die wesentlichen Qualitäten für einen Politiker. Diese Qualitäten zeichnen nicht nur gute Politiker, sondern ebenso auch gute Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte aus.
Leidenschaft im Sinne eines intensiven Interesses an der Lösung des Problems des Mandanten ist Voraussetzung für die erfolgreiche Mandatsbearbeitung – gerade im Familienrecht, in dem es für den Mandanten wie in wenigen anderen rechtlichen Angelegenheiten um existenzielle Fragen geht. Doch diese Leidenschaft ist nicht als kritiklose Übernahme und Wiedergabe der Position des Mandanten zu verstehen.
Denn neben der Leidenschaft gehört auch das Augenmaß zu den erforderlichen Qualitäten. Max Weber nennt das Augenmaß sogar die entscheidende psychologische Qualität des Politikers – auch dies gilt nicht weniger für Anwältinnen und Anwälte. Nach Weber ist Augenmaß die Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen – übertragen auf die Anwaltschaft bedeutet dies, die Distanz zu wahren, die Distanz zu dem Fall und zu dem Mandanten.
Die Anwältin oder der Anwalt ist nicht das Sprachrohr des Mandanten, sondern dessen juristischer Berater. Wer seinem Mandanten nach dem Mund redet, ihn mit dem Hinweis: "Wir machen das schon" ruhig stellt, tut dem Mandanten – und sich – keinen Gefallen. Die mangelnde Distanz zu dem Problem des Mandanten, der Druck, die selbst gesäten Erwartungen zu erfüllen, führt zu Auswüchsen in der Korrespondenz und zu Umgangsformen unter den Anwälten, die der sachorientierten Lösung der Probleme der Mandanten – um es vorsichtig auszudrücken – zumindest nicht dienlich sind.
Kolleginnen und Kollegen berichten immer häufiger von persönlichen Angriffen in anwaltlichen Schriftsätzen. Nicht selten hört man, dass Informationen aus als vertraulich vereinbarten Gesprächen zwischen den Bevollmächtigten zum – manchmal nur vermeintlichen – Vorteil des eigenen Mandanten öffentlich gemacht werden.
Auch darf die prozessuale Wahrheitspflicht nicht zu einer wertlosen Marginalie verkommen, die gegebenenfalls im Sinne besserer Erfolgsaussichten geopfert werden darf: So trug ein Kollege in einem Unterhaltsverfahren vor dem Familiengericht vor, der Ehemann habe der Ehefrau einen Pkw geschenkt, weshalb der Unterhalt zu mindern sei; nahezu zeitgleich begründete er das Herausgabeverlangen desselben Pkw mit der Begründung, der Ehemann sei Eigentümer des Pkw und die Ehefrau nicht zum Besitz berechtigt – hilfsweise trug er im Übrigen vor, falls die Ehefrau eine Schenkung behaupten würde, wäre diese wegen groben Undanks widerrufen worden.
Solche Auswüchse mögen Ausdruck verkürzter oder gar fehlender anwaltlicher Ausbildung sein – zu viele Referendarinnen und Referendare nutzen die anwaltlichen Ausbildungsstationen als sog. "Tauchstationen" (was aber eben auch voraussetzt, dass sich Anwältinnen und Anwälte finden, die solche Tauchstationen ermöglichen).
Solche Auswüchse mögen Ausdruck eines steigenden wirtschaftlichen Druckes sein – dem sowohl Berufseinsteiger als auch zunehmend alteingesessene Kolleginnen und Kollegen ausgesetzt sind.
In jedem Fall aber sind solche Auswüchse auch Ausdruck fehlenden Augenmaßes oder fehlenden Verantwortungsgefühls.
Gleich, ob eine Kollegin oder ein Kollege es bei der Bearbeitung eines Mandates an der notwendigen Leidenschaft, dem erforderlichen Augenmaß oder der hinreichenden Verantwortung fehlen lässt – es schadet im Ergebnis allen Kolleginnen und Kollegen.
Wohin das führt? Schauen wir uns die letzte Erhebung des Allensbacher Instituts für Demoskopie zu dem Ansehen einzelner Berufsgruppen bei der Bevölkerung an: Zu den Verlierern gehören – neben den Politikern – die Rechtsanwälte. Ende der 1990er Jahre hatten noch 37 Prozent der Bevölkerung vor den Anwälten eine hohe Achtung, nunmehr sind es nur noch 27 Prozent. Während die Anwälte damals noch nach den Ärzten und Pfarrern auf Platz 3 der Rangliste standen, stehen sie nunmehr auf Platz 6 der Rangliste. Eine Tendenz, die nachdenklich stimmen muss.
Warum die Politiker an Ansehen verlieren, wissen wir alle: Es fehlt ihnen in der öffentlichen Wahrnehmung an Leidenschaft, Augenmaß und Verantwortungsgefühl. Anwälte sollten zu klug sein, um die gleichen Fehler zu begehen.
Leidenschaft, Augenmaß, Verantwortungsgefühl – diese Qualitäten sollten uns auszeichnen, wenn wir das nächste Mal zum Diktiergerät greifen oder einem Mandanten, dessen Gegner, dem Gericht oder einer Kollegin/einem Kollegen gegenübertreten.
Jochem Schausten, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Familienrecht, Krefeld