Dr. Christine Hohmann-Dennhardt
Ein solcher, von wechselseitigem Respekt getragener Diskurs zwischen dem EGMR und den nationalen Verfassungsgerichten über die menschen- und verfassungsrechtliche Beurteilung gesetzgeberischen Handelns ist gerade auf dem Felde des Familienrechts von großer Wichtigkeit. Denn hier findet man in Europa mehr noch als auf anderen Rechtsgebieten eine große Vielfalt nationaler gesetzgeberischer Ausgestaltungen. Grund hierfür ist nicht nur, dass die Kompetenz zur Aufstellung familienrechtlicher Regeln nach wie vor weitestgehend bei den Nationalstaaten verblieben ist. Auch gesellschaftliche Entwicklungen und der Wandel von Einstellungen wie Lebensweisen der Menschen geben den Gesetzgebern wie den Gerichten immer wieder Anlass, auf veränderte familiäre Konstellationen oder Konfliktsituationen neue rechtliche Antworten zu geben. Und diese können durchaus unterschiedlich ausfallen.
1. Veränderte Familienwelten
Dies trifft auch auf die Frage der Rechtspositionen nicht miteinander verheirateter Eltern gegenüber ihren nichtehelichen Kindern zu. Hier hat es in den letzten Jahrzehnten sichtbare Veränderungen gegeben. Das gilt zum einen für die Zahl der Kinder, die nicht einer Ehe entstammen. Sie ist auch in Deutschland stetig angestiegen. Zwar wachsen immer noch 76,8 % der Kinder in ehelich verbundenen Gemeinschaften auf. Doch der Rückgang der ehelich geborenen Kinder ist deutlich. Er machte von 1996 bis 2006 in Westdeutschland 5 %, in Ostdeutschland 14 % aus. Entsprechend stieg der Anteil der Kinder, die bei einem Elternteil leben, auf 16,1 % und derjenigen, die in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft aufwachsen, auf 7,1 % an. Für immer mehr Eltern und Kinder ist die Regelung der Sorgetragung für das nichteheliche Kind also von maßgeblicher Bedeutung.
Zum anderen haben sich die Einstellungen in der Bevölkerung zu nichtehelichen Kindern, zu deren Müttern und zur (Rechts-)Beziehung dieser Kinder zu ihren Vätern, vor allem aber auch das Rollenverständnis von Vätern nichtehelicher Kinder grundlegend gewandelt. Während es bis weit in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts noch für Frauen als Schmach galt, ein nichteheliches Kind zu bekommen, und diese Kinder selbst ebenfalls stigmatisiert wurden, wird es mittlerweile nicht mehr für anstößig gehalten, vielmehr als normal empfunden, wenn Kinder nichtehelich geboren werden und von einem Elternteil, in der Regel ihrer Mutter (90 % der Alleinerziehenden sind Frauen), aufgezogen werden oder bei ihren ohne Trauschein zusammenlebenden Eltern aufwachsen. Dazu nimmt die Zahl der Väter zu, die Verantwortung für ihre nichtehelichen Kinder tragen und nicht nur zur Zahlung von Unterhalt herangezogen werden, sondern Kontakt mit ihren Kindern pflegen wollen, auch und gerade wenn diese nicht mit ihnen zusammenleben.
2. Rechtsentwicklungen in Europa
Zuständig für die Anpassung des Familienrechts an derartige gesellschaftliche Entwicklungen sind zunächst einmal die nationalen Gesetzgeber, die hierbei durchaus auch rechtsvergleichend die Lösungen betrachten, die für das jeweils anstehende und zu regelnde Problem in anderen Ländern gefunden wurden. Allerdings müssen sie stets auch die Tradition des bisherigen, im eigenen Land bestehenden Rechts, die rechtspolitische Diskussion darüber und die Einstellungen der Bevölkerung dazu berücksichtigen. Deshalb erstaunt nicht, dass es im nationalen Familienrecht in Europa zwar ein paar gleich verlaufende Entwicklungslinien gibt. So hat sich zum Beispiel inzwischen in so gut wie allen europäischen Rechtsordnungen das Kindeswohl als entscheidender Maßstab und damit "europäischer Standard" für Rechtszuweisungen in familiären Konfliktfällen durchgesetzt. Doch ansonsten sind die familienrechtlichen Regelungen großenteils recht unterschiedlich, man denke nur an diejenigen über den Zugang zur Ehe und zu sonstigen rechtlich geregelten Partnerschaften, über die Klärung der Abstammung eines Kindes oder das Verhältnis der leiblichen zur rechtlichen oder sozialen Elternschaft. Insofern haben sich die nationalen Verfassungsgerichte mit unterschiedlichen Prüfgegenständen zu befassen und müssen bei der Beurteilung der jeweiligen landesspezifischen Regelungen im Hinblick auf deren Verfassungsverträglichkeit die Rechtskontexte berücksichtigen, ...