Der vierte Prüfungsschritt – die Frage, ob die Scheidung mit dem ordre public vereinbar ist – sollte jedenfalls gedanklich immer dann durchgeführt werden, wenn die Privatscheidung nach dem jeweils anwendbaren ausländischen Scheidungsrecht wirksam war. Anwendbar sind allerdings nicht die ordre public-Vorschriften der Art. 10 und 12 Rom III-VO, sondern Art. 6 EGBGB, wie der deutsche Gesetzgeber in Art. 17 Abs. 2 Nr. 5 EGBGB ausdrücklich angeordnet hat. Hintergrund dieser Modifikation ist der bis heute offene Streit, ob Art. 10 Alt. 2 Rom III-VO abstrakt zu verstehen ist und damit jedes grundsätzlich gleichheitswidrige Scheidungsrecht für per se unanwendbar erklärt. Diese Auslegung, die auch der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen in Sahyouni/Mamisch vertreten hatte, hätte zur Folge, dass beispielsweise jede Verstoßungsscheidung unwirksam wäre, auch wenn sie im Einzelfall nicht gegen grundlegende Wertvorstellungen verstoßen würde, etwa weil die Frau mit der Scheidung einverstanden war. Dagegen stellt Art. 6 EGBGB stets auf das konkrete Ergebnis der Anwendung ausländischen Rechts im jeweiligen Einzelfall ab. Das fremde Scheidungsrecht bleibt also nur dann unangewendet, wenn die jeweilige Scheidung zu einem untragbaren Ergebnis führt. Dafür erforderlich ist außerdem ein hinreichender Inlandsbezug, wofür es bei einem besonders eklatanten Widerspruch zu den Wertungen des inländischen Rechts allerdings ausreichen kann, dass die Auslandsscheidung in ein deutsches Register einzutragen wäre.
Regelmäßig unproblematisch sind alle Formen der Vertragsscheidung, bei denen beide Ehegatten in das Verfahren eingebunden waren. Ebenso verstoßen get-Scheidungen nicht gegen den deutschen ordre public, wenn die Frau den Scheidungsbrief freiwillig entgegengenommen hat. Bei talāq-Scheidungen liegt ein ordre public-Verstoß hingegen näher, weil die einseitige Verstoßung der Frau durch den Mann mit verschiedenen Grundrechten, insbesondere mit Art. 3 Abs. 2 GG, in Konflikt steht. Hier ist folgendermaßen zu differenzieren:
Erstens verneint die Rechtsprechung einen ordre public-Verstoß, wenn die Ehefrau mit der Verstoßung von Anfang an einverstanden war, weil sich dann die Unvereinbarkeit des fremden Scheidungsrechts mit den deutschen Grundrechten im Ergebnis nicht ausgewirkt hat. Gleiches gilt zweitens, wenn die Ehe auch unter Geltung des deutschen Rechts gegen den Willen der Frau hätte geschieden werden können, das Paar vor der Scheidung also mindestens drei Jahre getrennt gelebt hatte (vgl. § 1566 Abs. 2 BGB). In diesem Fall muss aber das Recht der Frau auf rechtliches Gehör gewahrt, diese also angemessen in das Verstoßungsverfahren eingebunden worden sein. Mindestvoraussetzung ist, dass sie wenigstens von der Verstoßungsabsicht unterrichtet wurde und die Gelegenheit hatte, sich dazu vor dem Ehemann in der Sache zu äußern. Drittens scheidet ein ordre public-Verstoß auch dann aus, wenn sich die Frau nachträglich mit der Verstoßung einverstanden erklärt. Dieses Einverständnis kann sie auch konkludent zum Ausdruck bringen, z.B. indem sie selbst einen Anerkennungsantrag gem. § 107 Abs. 4 FamFG stellt oder im Standesamt eine neue Eheschließung beantragt.
Für die Beratungspraxis sind also vor allem diejenigen Fälle problematisch, in denen der Ehemann die Scheidungsanerkennung begehrt, etwa weil er erneut zu heiraten gedenkt. Dann nämlich kann es mitunter schwierig sein, Informationen zur verstoßenen Ehefrau zu erhalten, um einen möglichen ordre public-Verstoß aus dem Weg räumen zu können.
Autor: Dr. Jennifer Antomo, Akademische Rätin a.Z., Mainz, und Rechtsanwältin, Wiesbaden
FF 5/2022, S. 197 - 205