Auch im Jahr 2022 hat das BVerfG einige auch für die Praxis relevante Entscheidungen zu kinderschutzrechtlichen Maßnahmen im Sorgerecht erlassen. Wie schon 2021, ging es auch im Jahr 2022 um den Schutzanspruch des Kindes gegenüber dem Staat bei einer beabsichtigten Rückführung zu seinen leiblichen Eltern. Hintergrund der Herausnahme des Kindes war eine langjährige BtM-Abhängigkeit beider Eltern, gewalttätige Konflikte unter ihnen und eine drogeninduzierte Psychose bei der Kindesmutter. Während das AG die Rückführung des Kindes im Hauptsacheverfahren nach Einholung eines Gutachtens ablehnte, übertrag das OLG dem Kindesvater wegen dessen derzeitiger Drogenabstinenz das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitsfürsorge und das Recht zur Regelung der schulischen Angelegenheiten bei bestehender gemeinsamer Sorge der Eltern in den anderen Teilbereichen. Zugleich verpflichtete es den Vater zur Teilnahme an einem Impulskontrolltraining und ordnete den Verbleib des Kindes "bis auf Weiteres, längstens bis zum 11.4.2022" im Haushalt der Pflegeeltern an. Das BVerfG hatte bereits den Vollzug der Entscheidung des OLG im Rahmen einer einstweiligen Anordnung ausgesetzt. In der Hauptsache hat es eine Verletzung der Grundrechte des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 2 GG (Recht des Kindes auf staatlichen Schutz und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) festgestellt. Bei der Rückführung sei, so die Kammer, auf ausreichend sicherer Tatsachengrundlage festzustellen, dass eine erhebliche konkrete Kindeswohlgefährdung bei einer Rückführung nicht besteht. Zwar sei es zulässig, dass ein Gericht seine Entscheidung über die Rückführung abweichend von den Empfehlungen der Fachbeteiligten treffe. Dies bedürfe jedoch einer näheren Begründung. Vorliegend habe das OLG abweichend von den Meinungen der Fachbeteiligten entschieden, ohne seine eigene Sachkunde oder abweichende Erkenntnisgrundlagen in der gebotenen Weise darzulegen. Den Verweis auf die durch die Eltern wahrgenommenen Paar- und Suchtgespräche sah die Kammer als unzureichend an. Auch fehle es an der Einbeziehung des Umstandes, dass die Rückführung des Kindes in den Haushalt des Vaters im maßgeblichen Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung zugleich auch die Rückführung zu der im selben Haushalt lebenden psychisch instabilen Mutter bedeutete. Weiter habe das OLG nicht ausreichend begründet, warum mildere Mittel in Gestalt von ambulanten Maßnahmen nach einer Rückführung des Kindes in den Haushalt der Eltern ausreichen sollen, um einer Kindeswohlgefahr dort dauerhaft entgegenzuwirken.
Für die Praxis bedeutet die Entscheidung, den wachsamen Blick darauf zu richten, ob das FamG alle wesentlichen Gesichtspunkte berücksichtigt und auch benannt hat. Im Falle der Abweichung von den Meinungen der Fachbeteiligten ist weiter sorgsam darauf zu achten, ob das Gericht über anderweitige verlässliche und überzeugende Erkenntnisquellen verfügt.
Die mögliche Rückführung von Kindern aus einer Pflegefamilie zurück zu den Eltern war Gegenstand von zwei weiteren Entscheidungen des BVerfG. In seiner Entscheidung vom 13.7.2022 macht die Kammer deutlich, dass es bei der Entscheidung über den Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie nicht nur auf die gewachsenen Bindungen des Kindes zur Pflegefamilie ankommt und ankommen darf, sondern dass insbesondere auch prognostiziert werden muss, wie sich das Kind bei einer Rückführung im elterlichen Haushalt entwickeln würde. Diesen Anforderungen genügten vorliegend die fachgerichtlichen Entscheidungen: diese haben zum einen die als intensiv, qualitativ hochwertig und lang andauernd gewertete Bindung an die Pflegeeltern und an die Halbschwester unter dem Aspekt der aus einer Trennung von diesen Bezugspersonen drohenden Kindeswohlgefährdung berücksichtigt. Zum anderen haben sie auch auf Gefahren für die Entwicklung des Kindes abgestellt, die nach einem Wechsel zum Kindesvater drohten. Anders in dem am 15.11.2022 entschiedenen Fall. Die Kammer hat sich – in einer begründeten Nichtannahmeentscheidung – hier mit der Frage auseinandergesetzt, welche Gewichtung den sozialen Bindungen eines in der Pflegefamilie lebenden Kindes im Hinblick auf die sonstig in Betracht kommende Rückführung zu einem Elternteil zukommt. Das OLG hatte die Rückführung der Kinder zum erziehungsfähigen Kindesvater im Rahmen eines Übergangsprozesses im engen Kontakt mit den Pflegeeltern abgelehnt, weil hierdurch das bestehende Bezugssystem verändert werde. Die Kammer fand diese Haltung des OLG deshalb bedenklich, weil das OLG damit letztlich im Wesentlichen auf einen Umstand abgestellt hat, der mit jedem Wechsel der aktuellen Hauptbezugspersonen der Kinder verbunden sei und einer Rückführung in den Haushalt der Eltern automatisch dauerhaft entgegenstehen würde, was mit dem Elternrecht nicht vereinbar sei.
Mit einer Entscheidung vom 16.9.2022 führt das BVerfG seine Rechtsprechung zu den Anforderungen an einen (teilweisen) Sorgerechtsentzug bei erheblich...