Dr. Mathias Grandel
Ich bin in großer Not! Meine Glaskugel ist defekt. Angesichts der zahlreichen ungeklärten Probleme im neuen Unterhaltsrecht war mir meine Glaskugel ein unentbehrlicher Helfer bei der unterhaltsrechtlichen Beratung geworden. Neulich – als meine Glaskugel noch funktionierte – hat sie mir folgende Eingebung vermittelt:
Nach der aktuellen Rechtsprechung des BGH muss nachehelichen Einkommensverminderungen beim Unterhaltspflichtigen, die nicht auf einer Obliegenheitsverletzung beruhen, schon bei der Bedarfsberechnung Rechnung getragen werden. Die aktuelle BGH-Rechtsprechung hält es für notwendig, nachehelich neu entstandene Unterhaltspflichten für gleichrangig oder vorrangig Unterhaltsberechtigte nicht erst auf der Stufe der Leistungsfähigkeit des Pflichtigen einzubeziehen. Sie seien schon bei der Bedarfsberechnung zu Lasten des geschiedenen Ehegatten zu berücksichtigen. Der BGH nennt es die "Lehre von den wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen" und verortet es in der Auslegung des § 1578 Abs. 1 Satz 1 BGB. Meine Glaskugel hat mir vermittelt, dass diese Argumentation den Blick darauf verstellt, dass wir im Recht des nachehelichen Unterhalts bei einem Billigkeitsunterhalt angekommen sind, und ich bin zu der Ansicht gelangt, dass meine Glaskugel Recht hat. Der Gesetzgeber hat beim nachehelichen Unterhalt wegen Kindesbetreuung mit dem neuen Unterhaltsrecht eine positive Billigkeitsprüfung als Tatbestandsmerkmal eingeführt. Eine zeitliche Befristung der Unterhaltsansprüche ist möglich, wenn ein unbefristeter Anspruch unbillig wäre. Die Herabsetzung des nachehelichen Unterhalts der Höhe nach kann nach dem neuen § 1578b Abs. 1 BGB bei allen Unterhaltstatbeständen am Maßstab der Billigkeit erfolgen. Das geht jetzt auch – anders als nach § 1578 Abs. 1 Satz 2 BGB a.F. – nicht erst nach einer Übergangszeit, sondern schon vom Zeitpunkt der Rechtskraft der Scheidung an. Die Billigkeitskriterien können vielfältig sein. Es geht keineswegs nur um ehebedingte Nachteile, die im Gesetzeswortlaut nur beispielhaft genannt sind. Letztlich geht es aber nur noch um eine Billigkeitsabwägung zwischen den berechtigten Interessen des Unterhaltsschuldners auf der einen Seite und den berechtigten Ansprüchen verschiedener gleich- oder zueinander vorrangiger Unterhaltsberechtigter auf der anderen Seite. Das ist keine Frage der Beurteilung der ehelichen Lebensverhältnisse, die den Maßstab für die Bedarfsberechnung nach wie vor darstellen. Die Unterhaltsreform hat daran nichts geändert. Anstatt den Wortlaut des § 1578 Abs. 1 Satz 1 BGB überzustrapazieren, erscheint es angemessener, offen zu sagen, dass der nacheheliche Unterhalt sich zu einem Unterhaltsanspruch am Maßstab der Billigkeit entwickelt, und das Problem dann dort zu erörtern, wo es hingehört, nämlich in § 1578b Abs. 1 BGB. Am Bedarf nach dem Maßstab der ehelichen Lebensverhältnisse ändert sich durch nachehelich hinzukommende Unterhaltsverpflichtungen nichts. Die Frage ist vielmehr, ob es wegen verringerter Einkünfte des Pflichtigen oder ihn treffender neuer Unterhaltspflichten nicht unbillig erscheinen kann, den Unterhaltsanspruch des geschiedenen Ehegatten davon unberührt zu lassen und nachehelichen Entwicklungen erst spät bei der Leistungsfähigkeit Rechnung zu tragen, nämlich erst dann, wenn ein Mangelfall eingetreten ist. Es geht um die Frage der Unterhaltsreduzierung über § 1578b Abs. 1 BGB und die Verkürzung des nachehelichen Anspruchs auf einen Billigkeitsunterhalt. Sagen Sie das aber nicht weiter! Man darf das so noch nicht sagen. Es könnte eine jahrzehntelange Unterhaltsdogmatik entgegenstehen. Es ist gerade erst das Bollwerk der Lebensstandardgarantie geschleift worden. Man soll nichts überstürzen! Ist meine Glaskugel zu visionär? Nein, ich glaube, dass sie Recht hat. Wir werden sehen, wie die Entwicklung weitergeht. Ich hoffe, meine Glaskugel kommt bald von der Reparatur zurück.
Dr. Mathias Grandel, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Familienrecht, Augsburg