Wohltätiger Zwang in der Kinder- und Jugendhilfe
Die Kinder- und Jugendhilfe umfasst ein breites Aufgabenspektrum sozialer Arbeit, das von einer allgemeinen Förderung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien (z.B. durch Kindertagesstätten, offene Jugendarbeit und Familienbildung) über spezifische Hilfen zur Erziehung in besonderen Lebenslagen (z.B. bei eingeschränkter Erziehungskompetenz der Eltern) bis hin zu sogenannten intensiv-pädagogischen Maßnahmen reicht, zu denen in besonders zugespitzten Lebenslagen auch die geschlossene Unterbringung von Jugendlichen mit außergewöhnlich herausforderndem Verhalten in stationären Einrichtungen zählt. Strukturbildende Leitoptionen der Kinder- und Jugendhilfe sind vor allem (a) die Prävention von prekären Entwicklungsverläufen bei Kindern und Jugendlichen, (b) die Integration der Betroffenen in die Gesellschaft bei Wahrung ihrer Eigenheiten sowie insbesondere (c) die Partizipation der adressierten Kinder, Jugendlichen und deren Eltern bzw. Familien bei der Planung und Durchführung professioneller Hilfen. Im Mittelpunkt der Kinder- und Jugendhilfe steht das umfassende Wohl der Kinder und Jugendlichen, das durch gezielte pädagogische Interventionen zu fördern und zu sichern ist, indem etwa die Entwicklungspotenziale der Betroffenen zur Entfaltung gebracht werden. Entscheidungen über medizinische Maßnahmen bei Minderjährigen gehören grundsätzlich zur Verantwortung der Eltern. Alle Kinder haben jedoch das Recht, an Entscheidungen, von denen sie betroffen sind, dergestalt teilzuhaben, dass ihre Meinung gehört und berücksichtigt wird.
Die staatlich organisierte Kinder- und Jugendhilfe hat in den letzten Jahrzehnten einen fundamentalen Wandel erfahren. Bis in die 1980er-Jahre herrschte eine Defizitorientierung vor, der zufolge "schwierige" Kinder und Jugendliche überwiegend als verwahrlost, arbeitsscheu oder delinquent wahrgenommen wurden. Im Zuge der pädagogischen Wende wurde der Zwangscharakter der "totalen Institution" Heim kritisch hinterfragt und es entstanden reformpädagogische Alternativen wie Kinderhäuser, Jugendwohngemeinschaften oder individuelle alltagsweltsituierte Betreuungsformen. In der Kinder- und Jugendhilfe konnten sich zunehmend Konzepte kindgerechter Erziehungshilfen durchsetzen, die auf die vorfindlichen Kompetenzen und Entwicklungspotenziale aufbauten und vor allem die Selbst- und Mitbestimmungsrechte der Betroffenen altersgerecht einbezogen. Im Mittelpunkt stand die Rückbesinnung auf den Kern aller pädagogischen Interventionen: eine von Achtsamkeit und Zutrauen geprägte und darin tragfähige Beziehung zwischen Pädagogen und zu erziehendem Kind bzw. Jugendlichen. Jede Intervention ist eingebettet in eine interaktive Beziehung zwischen der pädagogischen Fachkraft und ihren Sorgeadressaten.
Ebenso wie Strafen markieren Zwangsmomente in einer pädagogischen Intervention oftmals den ernüchternden Endpunkt einer Eskalation – so unvermeidbar sie in einer zugespitzten Situation erscheinen mögen. Neben einer Vorgeschichte haben solche Interventionen eine Nachgeschichte, die ihre intendierte Wirkung zu konterkarieren droht: Zwang kann die auf Achtsamkeit und Zutrauen angewiesene pädagogische Beziehung schädigen oder zerstören. Denn die Kinder und Jugendlichen erfahren sich oftmals als bloße Objekte einer abwertenden und demütigenden Maßnahme. Reagieren sie mit heftiger Gegenwehr, überfordert dies nicht selten die Fachkräfte, insbesondere dann, wenn für einen individuellen Umgang mit den Problemen zu wenig Personal vorhanden ist. Dies begünstigt die Gefahr einer weiteren Eskalation. Zwangsmomente bewirken deshalb oftmals das Gegenteil dessen, was sie bewirken sollen; es gelingt nicht, herausforderndes Verhalten einzuhegen und die Lage zu beruhigen.
Auch professionelle pädagogische Beziehungen sind immer wieder mit einem pädagogischen Paradox konfrontiert:
Die Förderung von Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung macht in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen gelegentlich pädagogische Maßnahmen erforderlich, die sich über das aktuelle Maß an Selbstbestimmung hinwegsetzen und damit dem Erziehungsziel zu widersprechen scheinen. Zu ihnen zählen auch alle Formen von Zwang. Auf sie deshalb grundsätzlich zu verzichten, gefährdet aber ebenfalls das Ziel pädagogischer Interventionen, nämlich die Entwicklung des Kindes bzw. des Jugendlichen zur eigenverantwortlichen Persönlichkeit zu fördern. Dieses Ziel setzt eine Sensibilität für deren spezifische Lebenswelt voraus. Zugleich verlangt es die Veränderung der Alltagsroutinen. Entwicklungsprozesse müssen von außen – gelegentlich auch gegen Widerstand – angeregt werden.
Unter anderem bei der unfreiwilligen Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung kommt es gelegentlich zur Kollision unterschiedlicher professioneller Perspektiven, weil hier neben den pädagogischen Fachkräften auch Kinder- und Jugendpsychiatern eine wichtige Rolle zufällt. Sie begutachten die Betroffenen und tragen für eine etwa notwendige begleiten...