Beim Verdacht auf Straftaten zu Lasten des Kindes hat die Aussagepsychologie und Prüfung der Glaubhaftigkeit der kindlichen Zeugenaussage im Rahmen eines gutachtlichen Vorgehens einen herausragenden Stellenwert.

Dieses Vorgehen eines Sachverständigen verlangt jedoch eine umfangreiche Zusatzausbildung, da die Methodik der Aussagepsychologie nicht dem sonstigen familienrechtspsychologischen oder psychiatrischen diagnostischen Sachverständigenvorgehen entspricht.

In Fällen des Verdachts einer Misshandlung von Schutzbefohlenen (Kindesmisshandlung) oder eines sexuellen Missbrauchs sollten psychologische und psychiatrische Sachverständige als Hilfspersonen des Gerichts und vor allem alle anderen professionellen Beteiligten (z.B. Jugendamt, Verfahrensbeistand, Familienrichter) grundsätzlich von sich aus das Kind in Bezug auf den strafrechtlich relevanten Verdacht nicht "untersuchen", erst recht nicht, wenn bereits ein Strafverfahren anhängig ist und eine aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsuntersuchung geplant oder durchgeführt wird.

Nur wenn das Kind von sich aus das Gespräch zu diesen belastenden Themen sucht und etwas mitteilen möchte, sollte der Ansprechpartner unter Beachtung der für diese Fallkonstellationen eigens entwickelten Fragetechniken geeignete (suggestionsarme) Fragen stellen.[22]

Alle das Kind Befragenden haben hierbei zu beachten, dass Mehrfachbefragungen suggestive Kräfte im Kind entfalten, die die Aussage des Kindes verfälschen können, so dass dann die Aussage u.U. nicht mehr nach den üblichen aussagepsychologischen Grundannahmen überprüft werden kann.

Oberstes Ziel in der Zusammenarbeit mit dem Kind bei einem strafrechtlich relevanten Hintergrund muss deshalb sein, Suggestionen des Kindes zu vermeiden.

Im familiengerichtlichen Verfahren gehören zu dem das Kind befragenden Personenkreis u.U. Mitarbeiter im Jugendamt, Richter im Familiengericht, psychologische und psychiatrische Sachverständige oder der Verfahrensbeistand. In diesen Fällen ist dringend eine auf konkreten Absprachen und Festlegungen beruhende koordinierte Kooperation aller Professionellen anzuraten, um Mehrfachbefragungen des Kindes zu vermeiden.

Wenn im Rahmen einer anstehenden informativen Befragung eine entspannte Gesprächsatmosphäre hergestellt ist, sollte das Kind zunächst zu einem freien Bericht (Rapport) aufgefordert werden, dem eine strukturierte Befragung folgt.

Oft reicht ein Rapport des Kindes aus, um den Sachverständigen und professionellen Beteiligten im Familiengerichtsverfahren zu veranlassen, eine aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsuntersuchung in Bezug auf eine eigens hierfür (nachweislich) qualifizierte Fachkraft anzuregen (Sachverständige), zu beantragen (z.B. Verfahrensbeistand, Jugendamt) oder durch das Familiengericht in Auftrag zu geben.

Entscheidend für einen fachlich ausgewiesenen Kommunikationsverlauf im Rahmen einer aussagepsychologischen Untersuchung sind spezielle Frageformen, die von der Rechtspsychologie[23] seit Jahrzehnten in

geeignete,
bedingt geeignete und
ungeeignete Frageformen

unterteilt werden, die ebenso im Rahmen von nur informationellen Befragungen als Gesprächshilfen von größter Bedeutung sind.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass derartige aussagepsychologischen Explorationen (informationelle Gespräche) keine fachlich ausgewiesene Glaubhaftigkeitsuntersuchung ersetzen, dennoch aber durch Tonbandaufzeichnungen zu dokumentieren sind.

Für die aussagepsychologische Untersuchung des Kindes gilt bei der Auswahl der Fragetechniken:

[22] Balloff/Koritz, Praxishandbuch für Verfahrensbeistände, 2. Aufl. 2016, 281 f.; Balloff, Kinder vor dem Familiengericht, 3. Aufl. 2018, S. 333 ff.
[23] Undeutsch, Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen, in Handbuch der Psychologie. Bd. 11: Forensische Psychologie, 1967, 26 ff.; Steller, Glaubhaftigkeitsbegutachtung, in Volbert/Steller, Hrsg., Handbuch der Rechtspsychologie, 2013, 300 ff.; Volbert, R., Besonderheiten bei der aussagepsychologischen Begutachtung von Kindern, in T. Bliesener/Lösel/Köhnken, Hrsg., Lehrbuch der Rechtspsychologie, 2014, 408 ff.; Volbert/Steller, Glaubhaftigkeit, in Bliesener/Lösel/Köhnken, Hrsg., Lehrbuch der Rechtspsychologie, 2014, 391 ff.; Dettenborn, Die Glaubhaftigkeitsbegutachtung im Verfahren – Möglichkeiten und Grenzen, in Doering-Striening, Hrsg., Opferrechte. Handbuch für den Opferanwalt, 2013, 213 ff.

I. Geeignete Frageformen

Offene Frage
Leerfrage
Anstoßfrage
Wahlfrage
Konträrfrage

Grundsätzlich sollte der Kommunikationsverlauf durch offene Fragen gekennzeichnet sein, also Fragen, die eine Beantwortung durch "ja" oder "nein" nicht zulassen.

Ohne Suggestionsproblematik sollten, wenn überhaupt, nur Fragen gestellt werden, die als Leerfragen durch "wer, wo, was, wie, womit" konkretisiert werden können: "Was geschah dann?" Oder: "Wie geschah es?"

Anstoßfragen beinhalten eine Erinnerungshilfe in Bezug auf das bereits vom Kind Angedeutete oder Gesagte: Gestern hast du berichtet, dass alles auf einer Bootsfahrt auf dem Grundewaldsee bega...

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