Eine richterliche Streitentscheidung in hochstrittigen, problem- und hochkonflikthaften Familiensachen ohne vorherige Nutzung intervenierender Hilfen stellt für die von Trennung oder Scheidung oder aus anderen – z.B. kindeswohlschädlichen – Anlässen betroffenen Familien, mit Ausnahme der besonders eilbedürftigen und dann meist auch akut kindeswohlgefährdenden Konstellationen, häufig einen Eingriff dar, der dem Kind mehr Schaden als Nutzen bringen kann.
Dieses Vorgehen verstößt gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn nicht alle milderen Mittel und Alternativen vor einem Eingriff in Grundrechte der Beteiligten bedacht, gegebenenfalls ausprobiert und genutzt wurden.
Nicht selten werden durch zu frühe Entscheidungen der Familiengerichte innerfamiliäre Konflikte unnötig festgeschrieben.
Bei der Frage des einvernehmensorientierten Vorgehens des SV sollte es ebenfalls zu einer Annährung der Forensischen Psychiatrie und Familienrechtspsychologie kommen.
Auch der Facharzt für Forensische Psychiatrie, mit dessen Hilfe u.U. eine seelische Erkrankung diagnostiziert wird, sollte gegebenenfalls im Gerichtsauftrag auf Einvernehmen mit den Beteiligten hinwirken, um sicherzustellen, dass diese Diagnose auch die Akzeptanz des betreffenden Elternteils bzw. der Eltern findet, so dass dieser Personenkreis beispielsweise nun medikamentöse oder therapeutische Hilfen und Unterstützungen in Anspruch nimmt.
Eine Krankheitseinsicht (Einsichtsfähigkeit) dem Patienten zu ermöglichen, stellt primär einen Akt der Unterstützung und Hilfe zur Selbsthilfe dar. Aber auch ohne Krankheitseinsicht kann ein Elternteil durchaus erziehungsfähig sein.
Deshalb sind die Anforderungen zur Frage der Einsichtsfähigkeit der Eltern aus familienrechtspsychologischer Sicht anders zu fassen als "nur" die fehlende Krankheitseinsicht.
Die Einsichtsfähigkeit der Eltern in kindeswohlunverträgliche Handlungen sollte folgende Aspekte der Selbsthilfe und Fremdhilfe zur Frage der Sicherstellung des Kindeswohls und Stärkung der Erziehungskompetenz umfassen:
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Problemsicht, |
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Problemkongruenz, |
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Problemakzeptanz, |
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Hilfeakzeptanz und |
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Veränderungsakzeptanz. |
Wird das elterliche Sorge- und Umgangsrecht auch von den Eltern als pflichtgebundenes Recht begriffen, stellt beispielsweise ein gerichtlicher Hinweis oder, da wo rechtlich möglich, eine gerichtliche Auflage zur Aufnahme einer Erziehungsberatung, Familienhilfe, psychologischen Beratung einen weitaus geringeren Eingriff in das Sorgerecht oder Umgangsrecht dar, als die Entziehung von Teilen oder der Gesamtheit des elterlichen Sorgerechts oder den Ausschluss des Umgangs.
Richterliche Entscheidungen in Familiensachen ohne Nutzung außergerichtlicher Hilfen oder der Einsatz einer einvernehmenorientierten Begutachtung stellen meist kein sinnvolles Instrument zur Beilegung von Partnerschafts- und Beziehungskonflikten sowie anderen Familienproblemen dar, wobei allerdings auch eine ordnungsstiftende Funktion eines gerichtlichen Beschlusses in den dafür geeigneten – meist chronifizierten – Fällen nicht verkannt wird.
Entscheidend für eine eltern- und vor allem kindzentrierte und das Wohlergehen des Kindes fördernde Sachverständigentätigkeit in der Familiengerichtsbarkeit ist, dass
1. häufig allein durch eine klinisch-psychologische oder psychiatrische Sicht keine durch das Gutachten kindeswohlverträglichere Ausgangssituation für die Familie entsteht,
2. vor allem den Eltern als Beteiligte des Verfahrens im Rahmen des Begutachtungsprozesses nach Möglichkeit neue und bessere Lebensperspektiven zum Wohl ihres Kindes übermittelt werden und sie die erkennen können,
3. die diagnostische Ermittlung auch die familialen Ressourcen umfasst, um Handlungsalternativen und Konfliktbewältigungsstrategien zu befördern,
4. eine Stärkung der seelischen Befindlichkeit und Subjektstellung des Kindes erfolgt und
5. eine Stärkung der elterlichen Kompetenzen und Verbesserung der Erziehungsverhaltensweisen möglich wird.
Hierzu sollten die Chancen eines interaktiven diagnostischen Erkenntnisprozesses und Dialogs zwischen Eltern und Kind einerseits und Sachverständigen andererseits nutzbar gemacht und positive Wirkfaktoren bei der Befragung von Kindern und Eltern berücksichtigt werden.
Mit diesem Vorgehen eröffnen sich in der gerichtsbezogenen gutachtlichen Tätigkeit neue Perspektiven eines subjektorientierten Vorgehens, das im Übrigen dem so genannten systemischen Verständnis von Familie sehr nahe kommt.
Das Gelingen einer angemessenen Rekonstruktion von Familienangelegenheiten und die Eröffnung neuer Perspektiven, das unter Umständen mögliche Einvernehmen in Bezug auf die Beilegung wenigstens einiger Konflikte oder sogar der Konsens und die aus diesem Prozess ermöglichte Wiederherstellung einer gemeinsamen elterlichen Verantwortung zum Wohl des Kindes, sind dann als Wahrheits- und Gelungenheitskriterium für ein erfolgreiches, am Kindeswohl orientiertes gutachtliches Vorgehen schlechthin anzusehen.
Autor: Dr. Rainer Balloff , Diplom-Psychologe, Berl...