BGB § 1666 Abs. 1 1666a
Leitsatz
1. §§ 1666, 1666a BGB ermöglichen lediglich ein staatliches Einschreiten zur Abwehr einer konkreten Kindeswohlgefährdung, nicht die Durchsetzung einer bestmöglichen Förderung des jeweils betroffenen Kindes.
2. Im Falle einer Schulverweigerung kann nicht automatisch eine Kindeswohlgefährdung angenommen werden, sondern alle wesentlichen Aspekte des konkreten Einzelfalls sind zu ermitteln und hinsichtlich einer konkreten Kindeswohlgefährdung zu bewerten. Allgemeine Erwägungen reichen zur Begründung einer konkreten und erheblichen Gefährdung im Sinne des § 1666 Abs. 1 BGB nicht aus.
3. Für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen ist nicht Aufgabe des Familiengerichts. Vielmehr stehen der Schulbehörde hierfür die sich aus Art. 118, 119 i.V.m. Art. 35 BayEUG ergebenden Maßnahmen zur Verfügung, die von dieser in eigener Zuständigkeit zu prüfen sind.
OLG Bamberg, Beschl. v. 22.11.2021 – 2 UF 220/20
Aus den Gründen
Gründe: I. [1] Die Eltern wenden sich gegen familiengerichtliche Auflagen, welche ihnen bezüglich ihres Kindes K erteilt worden sind, insbesondere mit dem Ziel der Wiederaufnahme des Schulbesuchs des Kindes.
[2] 1. Das betroffene Kind K, geb. am … (11 Jahre alt), lebt im Haushalt seiner Eltern zusammen mit seinen Geschwistern A, geb. am … (10 Jahre alt), und B, geb. am … (9 Jahre alt). Die Eltern sind gemeinsam sorgeberechtigt. Während der Vater einer Erwerbstätigkeit als … nachgeht, betreut die Mutter die Kinder und unterrichtet diese zuhause. Die Mutter ist staatlich geprüfte Übersetzerin, verfügt über einen Hochschulabschluss in Biologie und absolviert ein Fernstudium der Bildungswissenschaft.
[3] K leidet unter Gehörlosigkeit und verfügt inzwischen über ein Cochlea-Implantat. Er wurde im Jahr 2015/2016 von der Einschulung zurückgestellt. Im September 2016 hatte der Vater der Schule eine Abmeldebestätigung für seinen Sohn nach Frankreich vorgelegt. Ab 10.1.2017 besuchte K die erste Klasse der Grundschule … Der Schulbesuch des Kindes wurde in der Folgezeit nach wenigen Wochen eingestellt.
[4] Auch die Geschwister des betroffenen Kindes besuchen die staatliche Schule nicht mehr. Der Schulbesuch des Kindes A endete im Januar 2020, der des Kindes B bereits vor diesem Zeitpunkt.
[5] 2. Im März 2017 informierte die Rektorin der Grundschule … das Landratsamt – Jugendamt – … über die Einstellung des Schulbesuchs des Kindes K. Da durch Gespräche mit den Eltern seitens der Schulbehörde und des Jugendamts der Schulbesuch des Kindes nicht erreicht werden konnte, wandte sich das Jugendamt mit Schreiben vom 1.7.2017 zur Erörterung einer möglichen Kindeswohlgefährdung bei K an das Amtsgericht – Familiengericht – … , welches das Verfahren der einstweiligen Anordnung 3 F 896/17 einleitete und einen Erörterungstermin bestimmte. Im Termin vom 27.7.2017 erklärte die Mutter, K habe Widerstände gegen die Schule entwickelt. Die Eltern hätten erkannt, dass dem Kind der Schulbesuch nicht gut täte und wollten das Kind daher zuhause einer Fernbeschulung mit Materialien des Instituts … unterziehen. Nachdem übereinstimmend Eilmaßnahmen nicht für erforderlich erachtet wurden, sondern die Einholung eines Sachverständigengutachtens, leitete das Amtsgericht das vorliegende Hauptsacheverfahren 3 F 992/17 von Amts wegen ein und beendete das Verfahren der einstweiligen Anordnung. Das Verfahren der einstweiligen Anordnung 3 F 896/17 ist beigezogen worden.
[6] Im Hauptsacheverfahren wurde mit Beschlüssen vom 28.8.2017 dem Kind K Frau … als Verfahrensbeiständin bestellt und Frau Diplom-Psychologin … mit der Erstellung eines familienpsychologischen Sachverständigengutachtens zur Frage einer Kindeswohlgefährdung des Kindes K bei einem Verbleib im Haushalt der Eltern beauftragt. Unter dem 21.12.2017 legte die Sachverständige ihr schriftliches Gutachten vor. Sie kam zu dem Ergebnis, dass bei den Eltern mit Ausnahme der Einhaltung der Schulpflicht für K keine gravierenden, das Wohl des Kindes gefährdenden Einschränkungen in der Erziehungsfähigkeit gegeben seien. Vielmehr würde eine Herausnahme des Kindes aus dem elterlichen Haushalt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer psychischen Schädigung des Kindes und damit zu einer Kindeswohlgefährdung führen durch den Verlust seiner Bindungsfiguren, seiner Geschwisterbeziehungen und seines sozialen Umfelds. Aufgrund der vorhandenen Erziehungskompetenz der Eltern und des kognitiven Potentials des Kindes sei davon auszugehen, dass K's Schulverweigerung mittelfristig verändert werden könne. In Kooperation mit dem Mobilen Sonderpädagogische Dienst (MSD) für Kinder mit Förderbedarf im Hören, der zuständigen staatlichen Schulpsychologin, der Beratungsstelle und den Eltern solle K schrittweise in den Schulalltag integriert und bis dahin der Heimunterricht durch die Mutter mit regelmäßigen Lernstandserhebungen in der Schule fortgesetzt werden. Zum Entwicklungsstand des Kindes ist dem Gutachten zusammenfassend zu entnehmen, dass klinisch relevante Auffälligkeiten nach den Beobachtungen der Eltern und den Verhalte...