GG Art. 6 Abs. 2 S. 1, Abs. 3, BGB § 1666
Leitsatz
1. Eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar, der nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen oder aufrechterhalten werden darf. Art. 6 Abs. 3 GG erlaubt diesen Eingriff lediglich unter der strengen Voraussetzung, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre Eine solche Gefährdung ist dann anzunehmen, wenn bei dem Kind bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.
2.Mit einer räumlichen Trennung verbundene Sorgerechtsentscheidungen sind auch im fachgerichtlichen einstweiligen Anordnungsverfahren zulässig, wenn die Gefährdungslage nach Ausmaß und Wahrscheinlichkeit aufgrund der vorhandenen Erkenntnisse bereits derart verdichtet ist, dass ein sofortiges Einschreiten auch ohne weitere gerichtliche Ermittlungen geboten ist.
3. Sind nach den fachgerichtlichen Feststellungen bei den betroffenen Kindern vor der Inobhutnahme bereits erhebliche Defizite sowohl im Bereich der sprachlichen und motorischen Entwicklung als auch der sozio-emotionalen Entwicklung vorhanden, so ist es nicht zu beanstanden, wenn das Fachgericht diese Feststellungen im einstweiligen Anordnungsverfahren zugrundlegt, auch wenn sich nach einer im Hauptsacheverfahren abgegebenen, vorab erfolgten Stellungnahme der dort beauftragten psychologischen Sachverständigen keine gravierenden Entwicklungsauffälligkeiten der Kinder ergeben, die mit Sicherheit durch ein Fehlverhalten des Beschwerdeführers verursacht worden wären. Hierauf kommt es schon deshalb nicht an, weil es bei der Entscheidung über den Entzug oder Teilentzug des Sorgerechts nicht um eine Sanktionierung eines möglichen Fehlverhaltens eines Elternteils, sondern allein um eine am Kindeswohl zu orientierende Entscheidung geht.
4. Die prognostische Einschätzung des Oberlandesgerichts, dass der unter Betreuung stehende, in seiner Kritik- und Urteilsfähigkeit eingeschränkte Beschwerdeführer nicht in der Lage sein werde, seinen Kindern bei Rückkehr in seinen Haushalt den erforderlichen Schutz zu bieten, ist im einstweiligen Anordnungsverfahren angesichts der den Kindern bei Rückkehr in den väterlichen Haushalt möglicherweise drohenden weiteren Beeinträchtigungen des Kindeswohls hinreichend tragfähig begründet.
5. In Eilverfahren ist es regelmäßig nicht möglich, noch vor der Entscheidung ein Sachverständigengutachten einzuholen.
6. Es ist nicht zu beanstanden, wenn das Fachgericht im einstweiligen Anordnungsverfahren nach § 68 Abs. 3 S. 2 FamFG von einer erneuten mündlichen Anhörung der Beteiligten absieht. § 68 Abs. 5 Nr. 1 FamFG steht dem Verzicht auf die (erneute) mündliche Anhörung nicht entgegen, weil die Regelung schon nach ihrem eindeutigen Wortlaut ("Hauptsacheverfahren") im einstweiligen Anordnungsverfahren nicht greift.
(red. LS)
BVerfG, Nichtannahmebeschl. der 2. Kammer des 1. Senats v. 7.3.2023 – 1 BvR 221/23 (OLG Köln, AG Geilenkirchen)
1 Aus den Gründen
Gründe: [1] Die mit Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und auf Gewährung von Prozesskostenhilfe verbundene Verfassungsbeschwerde betrifft die mit einer Fremdunterbringung einhergehende vorläufige Entziehung weiter Teile des Sorgerechts für drei Kinder.
I. [2] 1. Der im Jahr 1960 geborene Beschwerdeführer ist der Vater von drei im Februar 2016, im März 2017 und im Oktober 2018 geborenen Kindern, die aus der Ehe mit der im Jahr 1994 geborenen Mutter hervorgegangen sind. Bei der Mutter handelt es sich um ein früheres Pflegekind des Beschwerdeführers. Die Eheleute leben seit 2019 getrennt. Nach der Trennung verblieben die Kinder zunächst bei dem Beschwerdeführer. Er steht unter Betreuung, die seit Oktober 2021 auch die familienrechtlichen Angelegenheiten umfasst.
[3] a) Im Februar 2021 wurden die drei gemeinsamen Kinder durch das Jugendamt in Obhut genommen und fremduntergebracht. Auslöser hierfür war eine Strafanzeige der Mutter gegen den Beschwerdeführer mit dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs und der Vergewaltigung seit ihrem achten Lebensjahr. Nachfolgend entzog das Familiengericht im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens mit Entscheidung vom 26.2.2021 zunächst ohne mündliche Verhandlung beiden Eltern Teile der elterlichen Sorge, unter anderem das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesundheitsfürsorge, für alle drei Kinder. Zum Ergänzungspfleger wurde das Jugendamt bestellt. Das Familiengericht leitete zudem ein Hauptsacheverfahren zur elterlichen Sorge ein und gab dort ein familienpsychologisches Sachverständigengutachten in Auftrag. Nach Durchführung einer Anhörung hielt das Familiengericht mit angegriffenem Beschl. v. 11.7.2022 die einstweilige Anordnung vom 26.2.2021 aufrecht.
[4] b) Die gegen diesen Beschluss gerichtete Beschwerde des Beschwerdeführers wies das Oberlandesgerich...