GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, BVerfGG §§ 23 Abs. 1 S. 2, 92
Leitsatz
1. Bei der staatlichen Pflicht zum Schutz von Leben und Gesundheit hat der Gesetzgeber einen anerkannt weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsraum. Was konkret zu tun ist, um Grundrechtsschutz zu gewährleisten, hängt von vielen Faktoren ab, im Besonderen von der Eigenart des Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der hier betroffenen Rechtsgüter (vgl. zuletzt BVerfG, Urt. des Zweiten Senats v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15 Rn 224 m.w.N.).
2. Das Bundesverfassungsgericht kann die Verletzung einer Schutzpflicht nur feststellen, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (vgl. BVerfGE 56, 54 <80>; 77, 170 <215>; 92, 26 <46>; 125, 39 <78 f.>; 142, 313 <337 f.
3. Der Gesetzgeber überschreitet seine Einschätzungsprärogative zu Corona-Schutzmaßnahmen nicht, wenn er soziale Interaktion unter bestimmten Bedingungen zulässt. Dabei kann er auch die gesellschaftliche Akzeptanz der angeordneten Maßnahmen berücksichtigen und ein behutsames oder auch wechselndes Vorgehen im Sinne langfristig wirksamen Lebens- und Gesundheitsschutzes für angezeigt halten.
4. Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, wissenschaftlichen Studien zu folgen, wenn auch fachwissenschaftlich nicht gesichert ist, welche Lockerungsmaßnahmen welchen genauen Effekt auf das Infektionsgeschehen haben, die Einschätzungen vielmehr auf Szenarien beruhen, die von zahlreichen Faktoren abhängig sind, welche wiederum nicht sicher prognostiziert werden können.
(Leitsätze der Red.)
BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 12.5.2020 – 1 BVerfG 1027/20
Aus den Gründen
Gründe: I. [1] Der demnächst 65-jährige Beschwerdeführer trägt vor, er gehöre nach der Definition des Robert-Koch-Instituts zur "Risikogruppe" für eine Infektion mit dem Coronavirus, und rügt im Wesentlichen, die in Umsetzung des Beschlusses vom 15.4.2020 von Bund und Ländern beschlossenen Lockerungen der "Corona-Maßnahmen" verletzten sein Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG. Er bezieht sich insoweit auf die in einer Telefonkonferenz erzielte Einigung der Bundeskanzlerin und der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 15.4.2020. Kurz zuvor hatte die Helmholtz-Gemeinschaft eine mit der Verfassungsbeschwerde vorgelegte Stellungnahme veröffentlicht, in der Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt und begutachtet wurden (vgl. Helmholtz-Initiative, Systemische Epidemiologische Analyse der COVID-19-Epidemie, 13.4.2020). Die Politik habe diese wissenschaftlichen Erkenntnisse ignoriert und nun sei eine zweite Infektionswelle zu befürchten. Die Lockerungsmaßnahmen seien daher im Wege einstweiliger Anordnung auszusetzen und die Öffnung der Grundschulen einstweilen zu untersagen.
II. [2] Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG), weil sie unzulässig ist.
[3] 1. Der Beschwerdeführer nennt keine konkreten und ihn selbst unmittelbar betreffenden Maßnahmen, die mit einer Verfassungsbeschwerde zulässig angegriffen werden könnten. Wird sein Vorbringen rechtsschutzfreundlich ausgelegt, zielt es in der Sache vielmehr darauf, dass der Staat Handlungen zum Schutz der Ansteckung mit einer gefährlichen Krankheit unterlasse, was ihn in seinen Grundrechten verletze.
[4] 2. Auch insoweit ist die Verfassungsbeschwerde jedoch unzulässig, denn sie ist nicht in einer den Anforderungen aus § 23 Abs. 1 S. 2, § 92 BVerfGG genügenden Weise begründet. Danach muss sich eine Verfassungsbeschwerde mit dem zugrundeliegenden einfachen Recht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des Sachverhalts auch unter Berücksichtigung einschlägiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auseinandersetzen und hinreichend substantiiert darlegen, dass eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint (vgl. BVerfGE 140, 229 <232 Rn 9> m.w.N.; st.Rspr). Dem genügt das Vorbringen hier nicht.
[5] a) Der Beschwerdeführer zielt in der Sache darauf, dass der Staat seiner grundsätzlich aus Art. 2 Abs. 2 GG folgenden Pflicht zum Schutz von Leben und Gesundheit nachkommt, setzt sich aber nicht mit den Anforderungen auseinander, die das Bundesverfassungsgericht zu solchen staatlichen Schutzpflichten entwickelt hat. Daher bleibt insbesondere unerörtert, inwiefern der Gesetzgeber hier seinen anerkannt weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsraum überhaupt überschritten haben könnte (vgl. BVerfGE 142, 313 <337 f. Rn 70>; auch BVerfG, Urt. des Zweiten Senats v. 26.2.2020 – 2 BvR 2347/15 Rn 224 f. jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen).
[6] b) Es liegt hier auch nicht auf der Hand, dass die behauptete Grundrechtsverletzung gegeben ist (vgl. BVerfG, Beschl. der 1. Kammer des Ersten Senats v. 6.9.2019 – 1 BvR 1763/18 Rn 3). Zwar ist das Grundrecht auf Leben und kör...