GG Art. 1 Abs. 1 Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 S. 1. Art. 6 Abs. 2 S. 2, BGB § 1632 Abs. 4
Leitsatz
1. Das Jugendamt als Amtsvormund kann das selbst nicht verfahrensfähige Kind im Verfassungsbeschwerdeverfahren wirksam vertreten, wenn ein Interessenkonflikt zwischen dem Kind und dem Amtsvormund nicht besteht.
2. Ein Kind hat auch im Verhältnis zu seinen Pflegeeltern einen Anspruch auf Schutz des Staates. Dieser staatliche Schutzanspruch wird verletzt, wenn trotz Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung (Missbrauch durch den Pflegevater) bei Rückkehr des Kindes in seine Pflegefamilie und trotz abweichender Feststellungen und Wertungen der beteiligten Fachkräfte eine hinreichende Gefahrenprognose unterbleibt und die Feststellungen und Würdigungen des Gerichts kein zuverlässige anderweitige Grundlage für eine abweichende Gefahreneinschätzung, zum Kindeswillen und zur Belastung des Kindes durch die Trennung von der Pflegemutter bieten.
(red. Leitsätze)
BVerfG, Beschl. v. 12.2.2021 – 1 BvR 1780/20 (OLG Brandenburg)
Aus den Gründen
Gründe: I. [1] Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine gerichtliche Rückführungsanordnung nach einer Herausnahme des Beschwerdeführers aus seiner Pflegefamilie durch den Vormund.
[2] 1. Der im Jahr 2014 geborene und durch das Jugendamt als Amtsvormund vertretene Beschwerdeführer wurde wenige Tage nach seiner Geburt in den Haushalt der Eheleute D. (Pflegeeltern), die sich bereits seit 2012 für eine Adoption beworben hatten, zur Adoptionspflege gegeben. Während des Adoptionsverfahrens wurde im September 2018 bekannt, dass bereits im Jahr 2013 bei einer Durchsuchung des Haushalts der Pflegeeltern mehrere Rechner des Pflegevaters beschlagnahmt wurden, auf denen kinderpornographische Bilder und Videos gespeichert waren. Der Pflegevater war 2017 wegen Verbreitung kinderpornographischer Schriften in sieben Fällen, wegen des Unternehmens der Besitzverschaffung kinderpornographischer Schriften in fünf Fällen und wegen des Besitzes kinderpornographischer Schriften in einem Fall zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden war. Mittlerweile ist die Strafe erlassen. Die Pflegeeltern informierten zunächst weder das Jugendamt über die Hausdurchsuchung oder das Strafverfahren noch die Strafgerichte oder den Bewährungshelfer des Pflegevaters über die beabsichtigte Adoption und den Aufenthalt des Kindes in seinem Haushalt. Der Pflegevater versuchte, die Verurteilung durch Vorlage eines alten Führungszeugnisses zu verschleiern und erklärte, nicht pädophil zu sein. Die Pflegemutter erklärte, sie stehe zu ihm und habe keine Zweifel an ihm. Der Pflegevater habe "schließlich kein Kind missbraucht".
[3] Nachdem das Jugendamt von der Verurteilung des Pflegevaters Kenntnis erlangt hatte, widerrief es den Ausspruch der Adoptionseignung der Pflegeeltern. Hiergegen gehen diese derzeit vor dem Verwaltungsgericht vor; eine Entscheidung darüber steht noch aus. Das Jugendamt leitete ferner ein Kindesschutzverfahren ein, um zu klären, ob der Beschwerdeführer im Haushalt der Pflegeeltern verbleiben könne. Es verdeutlichte den Pflegeeltern, dass eine Herausnahme des Kindes aus ihrem Haushalt in Betracht komme.
[4] 2. Daraufhin beantragten die Pflegeeltern beim Amtsgericht den Erlass einer Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB.
[5] a) Den Antrag lehnte das Amtsgericht mit nicht angegriffenem Beschl. v. 13.9.2019 nach Anhörung des Beschwerdeführers, der Pflegeeltern, des Jugendamts und der Verfahrensbeiständin ab. Die Voraussetzungen der Verbleibensanordnung lägen nicht vor. Im Gegenteil könne angesichts der Verurteilung des Pflegevaters nicht verantwortet werden, das Kind in seinem Haushalt zu belassen. Die Gefährdung des Kindeswohls lasse sich nur durch die Herausnahme des Kindes aus dem Haushalt abwenden, weil keine ständige Überwachung möglich sei.
[6] b) Aufgrund dieser Entscheidung wurde der Beschwerdeführer am 1.10.2019 aus dem Haushalt der Pflegeeltern genommen und in einer anderen Adoptivpflegefamilie aufgenommen. Nachdem keine gute Beziehung des Beschwerdeführers zur neuen Pflegemutter entstand, wurde er im November 2019 in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht, in der er seitdem lebt. Zu der Pflegemutter bestehen Umgangskontakte.
[7] c) Die Pflegeeltern legten gegen die amtsgerichtliche Entscheidung Beschwerde ein. Im Laufe des Beschwerdeverfahrens trennten sie sich, der Pflegevater zog aus dem gemeinsamen Haus aus und nahm seine Beschwerde zurück. Die Pflegemutter betrieb das Beschwerdeverfahren nunmehr mit dem Ziel weiter, die Rückführung des Beschwerdeführers an sie alleine zu erreichen.
[8] d) Das Oberlandesgericht hörte im Beschwerdeverfahren die Beteiligten an, verzichtete aber auf eine erneute Anhörung des von ihm als psychisch erheblich belastet bewerteten Beschwerdeführers. Dessen aktuelle Wunsch- und Willenshaltung nach einer Rückkehr zur Pflegemutter habe der Amtsvormund tragfähig vermittelt. Keiner der übrigen Beteiligten ziehe diese Haltung in Zweifel. ...