a) Die BGH-Rechtsprechung zur Nachlassbewertung
Die Frage, ob die latente Steuer abgezogen werden kann, betrifft auch im Pflichtteilsrecht vor allem Unternehmen und Grundstücke. Zu Unternehmen gibt es einzelne ältere BGH-Urteile. Ausgangspunkt ist hier zunächst, dass eine Ertragsteuer, die im Fall einer nach dem Erbfall tatsächlich erfolgenden Unternehmensveräußerung anfällt, nicht als Nachlassverbindlichkeit eingeordnet wird. Das wird aus dem Stichtagsprinzip hergeleitet, da die Steuerschuld zum Stichtag nicht entstanden sei. Die Ertragsteuer sei insbesondere keine bedingte oder unsichere Verbindlichkeit gemäß § 2313 BGB und könne daher auch nachträglich nicht mehr zum Ausgleich gebracht werden. Die Steuer sei vielmehr allein eine Schuld des Erben.
Davon zu trennen ist indes die Frage, ob die Steuer im Einzelfall bei der Unternehmensbewertung zu berücksichtigen ist. Das gilt laut BGH "jedenfalls dann, wenn abzusehen ist, dass die stillen Reserven zur Auflösung kommen. Ob das der Fall ist, hängt (…) in erster Linie davon ab, ob und für welche Zeit die Fortsetzung des Unternehmens zu erwarten steht oder ob andererseits Gründe dafür vorliegen, dass das Unternehmen in absehbarer Zeit aufgelöst oder veräußert werden wird. Entscheidend ist also die Verwertungsabsicht." Im konkreten Fall war der Betrieb nach dem Erbfall tatsächlich veräußert worden; ein Abzug der Ertragsteuern vom eingenommenen Kaufpreis wurde daher zugelassen.
Dass es auf die Verwertungsabsicht bzw. die tatsächliche Veräußerung ankommt, wurde in einer weiteren Entscheidung von 1973 bestätigt. Hier liest man, dass eine Ertragsteuer nicht zum Nachteil des Pflichtteilsberechtigten vom Unternehmenswert abgezogen werden dürfe, wenn eine Veräußerung tatsächlich nicht stattfinde. In einem weiteren Urteil heißt es am Rande, dass kein Abzug von vermeidbaren Kosten erfolgen solle. Im Jahr 1986 führt der BGH aus, dass im Fall einer Geschäftsaufgabe anlässlich des Erbfalls nicht außer Acht gelassen werden könne, dass "dem Unternehmen eine durch das Vorhandensein stiller Reserven und der dadurch latent gegebenen Steuerlast bedingte Wertminderung bereits zur Zeit des Erbfalls anhaftete, weil die Verwertung des Vermögens durch den Erben insoweit nicht ohne ein Fälligwerden der Steuer möglich ist. In diesen Fällen kann die nach § 16 EStG anfallende Steuer bei der Unternehmensbewertung im Rahmen des § 2311 BGB nicht unberücksichtigt bleiben."
Diese Grundsätze wurden später auch auf den Fall bezogen, dass die Unternehmensveräußerung erst fünf Jahre nach dem Erbfall erfolgte. Solange die Aufgabe des Geschäftsbetriebs noch "in engem Zusammenhang mit dem Erbfall" steht, wird der Abzug der tatsächlich anfallenden Ertragsteuer bei der Wertermittlung folglich zugelassen. Nach dieser, freilich älteren BGH-Rechtsprechung hängt die Berücksichtigungsfähigkeit der latenten Steuer als Abzugsposten somit davon ab, ob das Unternehmen zeitnah zum Erbfall veräußert werden soll oder nicht, bzw. davon, ob die Ertragsteuer dann früher oder später tatsächlich anfällt. Nur die tatsächlich anfallende Steuer wird zum Anlass genommen, die Wertermittlung zu korrigieren. Entsprechendes gilt für tatsächlich anfallende Veräußerungskosten wie z.B. Maklerkosten. Damit zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zur (neueren) familienrechtlichen BGH-Rechtsprechung.
Im erbrechtlichen Schrifttum wird diesem Ansatz vielfach gefolgt und sowohl auf die Ertragsteuer als auch auf die Spekulationssteuer bezogen. Der Pflichtteilsberechtigte dürfe schließlich nicht mit einer Steuer belastet werden, die tatsächlich nicht anfalle bzw. bei der unklar sei, ob und in welcher Höhe sie je anfallen werde. Alles andere wäre verfassungsrechtlich auch bedenklich. Im Übrigen müssten für alle Nachlassgegenstände gleiche Bewertungsgrundsätze gelten, hypothetische Forderungen dürfe man sonst auch nicht ansetzen.
Folgt man dem, ist somit im Einzelfall festzustellen, ob das Unternehmen veräußert wird oder nicht. Diese Frage wird in den meisten Fällen rasch zu beantworten sein, da vielfach schon vor dem Erbfall bekannt ist, ob es einen Erben gibt, der den Betrieb fortführen will. Ansonsten wird eine Bedenkzeit eingeräumt.