GG Art. 6 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 103 Abs. 1, BGB § 1666 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 6
Leitsatz
Im Verfahren über die Aufrechterhaltung eines Sorgerechtsentzugs mit Fremdunterbringung eines 15-jährigen führt die lediglich telefonische Anhörung des betroffenen Jugendlichen durch den Familienrichter bei anderweitiger, hinreichend sicherer Entscheidungsgrundlage des Fachgerichts (klare Äußerungen des Jugendlichen gegenüber einem Sachverständigen, dem Jugendamt, der Verfahrensbeiständin und Betreuern der Wohngruppe) nicht zu einem Verstoß gegen das Elterngrundrecht. Einen möglichen Verstoß gegen das Prozessgrundrecht des rechtlichen Gehörs kann bei offensichtlichem Interessenkonflikt nicht die Mutter, sondern nur der Jugendliche selbst geltend machen.
(red. LS)
BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 7.2.2022 – 1 BvR 1655/21 i.d.F. des Berichtigungsbeschlusses der Kammer vom 14.3.2022 (OLG Stuttgart, AG Böblingen)
Aus den Gründen
Gründe: I. [1] Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen, durch welche ihr wesentliche Teile des Sorgerechts, darunter das Aufenthaltsbestimmungsrecht, für ihren seit längerem in einer Wohngruppe untergebrachten 15-jährigen Sohn entzogen und auf das Jugendamt als Amtspfleger übertragen wurden. Sie macht unter anderem die Verletzung ihres Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG geltend. Insbesondere seien die Gerichte ihrer Aufklärungspflicht nicht hinreichend nachgekommen, weil das Familiengericht das Kind nur telefonisch angehört und das Oberlandesgericht gestützt auf § 68 Abs. 3 S. 2 FamFG (in der bis 30.6.2021 geltenden, § 68 Abs. 5 FamFG nicht enthaltenden Fassung) von einer Anhörung des Kindes abgesehen habe, obwohl die telefonische Anhörung des Amtsgerichts keine ordnungsgemäße persönliche Anhörung darstelle.
II. [2] Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die dafür nach § 93a Abs. 2 BVerfGG erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen auch durch das ihnen jeweils vorausgegangene Verfahren die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Sie ist zudem nicht berechtigt, grundrechtsgleiche Rechte ihres Sohns im verfassungsgerichtlichen Verfahren geltend zu machen.
[3] 1. a) Das Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Der Schutz des Elternrechts erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts (vgl. BVerfGE 84, 168 <180>; 107, 150 <173>). Eine räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern gegen deren Willen stellt den stärksten Eingriff in das Elterngrundrecht dar (vgl. BVerfGE 60, 79 <91>), der nur unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen oder aufrechterhalten werden darf (vgl. BVerfG, Beschl. der 2. Kammer des Ersten Senats v. 23.4.2018 – 1 BvR 383/18, Rn 16; BVerfG, Beschl. der 1. Kammer des Ersten Senats v. 27.11.2020 – 1 BvR 836/20, Rn 25; stRspr). Art. 6 Abs. 3 GG gestattet diesen Eingriff nur unter der strengen Voraussetzung, dass das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreicht, dass das Kind bei Verbleib bei oder Rückkehr zu den Eltern in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet wäre (vgl. BVerfG, Beschl. der 1. Kammer des Ersten Senats v. 21.9.2020 – 1 BvR 528/19, Rn 30 m.w.N.).
[4] Die fachgerichtlichen Annahmen dazu, ob die Voraussetzungen für eine Trennung des Kindes von den Eltern im Einzelfall erfüllt sind, unterliegen wegen des besonderen Eingriffsgewichts einer strengen verfassungsgerichtlichen Überprüfung. Diese beschränkt sich nicht darauf, ob eine angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts beruht (vgl. BVerfGE 18, 85 <93>). Wegen der besonderen Intensität des Eingriffs kommt bei dieser verfassungsgerichtlichen Prüfung ein strenger Kontrollmaßstab zur Anwendung, der sich ausnahmsweise auch auf einzelne Auslegungsfehler sowie auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts erstrecken kann (vgl. BVerfGE 136, 382 <391 Rn 28>; st.Rspr.).
[5] Der Grundrechtsschutz beeinflusst auch die Gestaltung des fachgerichtlichen Verfahrens (vgl. BVerfGE 53, 30 <65>; 55, 171 <182>; 79, 51 <66 f.>; 99, 145 <162>). In Sorgerechtsverfahren haben die Familiengerichte das Verfahren so zu gestalten, dass es geeignet ist, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>; st.Rspr.). In Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz bleibt es dennoch grundsätzlich dem erkennenden Gericht überlassen, welchen Weg es im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften für geeignet hält, um eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>; 79, 51 <62>).
[6] b) Daran gemessen verletzen die angegriffenen Entscheidungen die Beschwerdeführerin nic...