Teil 1
I. Einleitung
Der vor allem den Schutz der Ehe und Familie sowie das Elterngrundrecht garantierende Art. 6 GG ist seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Mai 1949 nahezu unverändert geblieben. Lediglich Art. 6 Abs. 5 GG hat durch Art. 9 § 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge vom 18.7.1979 insoweit eine Änderung erfahren, als – wie im gesamten Fachrecht – der Begriff "unehelich" durch "nichtehelich" ersetzt worden ist. Aus der weitgehenden Konstanz des Verfassungstextes lässt sich allerdings nicht folgern, dass auch in der Sache das Familienverfassungsrecht und die mit ihm verbundenen wesentlichen Gewährleistungen keinerlei Veränderungen in den vergangenen 75 Jahren erfahren hätten. Der in Art. 79 GG geregelte Weg der Änderung des Grundgesetzes durch den verfassungsändernden Gesetzgeber unter Einhaltung der prozeduralen Anforderungen (jeweils 2/3-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat, Art. 79 Abs. 2 GG) und der materiellen Grenzen aus Art. 79 Abs. 3 GG ist nicht die einzige Möglichkeit, vor allem die grundrechtlichen Gewährleistungen auf die jeweiligen gesellschaftlichen, politischen, sozialen und wirtschaftliche Verhältnisse in Deutschland abzustimmen. Vielmehr steht als zweiter Weg, dies zu erreichen, die Verfassungsinterpretation als Kernaufgabe von Verfassungsrechtsprechung zur Verfügung, die allerdings ihre Grenzen im Prinzip der Gewaltenteilung findet. Dem liegt im Kern ein Verständnis der Verfassung als living instrument zugrunde. Dieses methodische Verständnis, das in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg ausdrücklich als living instrument doctrine benannt wird, findet der Sache nach in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gleichfalls Anwendung. Es bewirkt auch für das Familienverfassungsrecht, dass die einschlägigen Freiheitsrechte gegenüber dem Staat unter den sich in den vergangenen 75 Jahren erheblich veränderten Verhältnissen von Familie, Eltern und Kindern sowie Gleichberechtigung nichts von ihrem Gewährleistungsgehalt eingebüßt haben. Entsprechendes gilt für die Gleichheitsgewährleitungen. Dieser Weg der Abstimmung der grundrechtlichen Gewährleistungsgehalte unter sich wandelnden Lebenswirklichkeiten mittels Verfassungsinterpretation soll in diesem Beitrag anhand von Beispielen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der vergangenen mehr als 70 Jahre zum weit verstandenen Familienverfassungsrecht verdeutlicht werden. Dies erfolgt an Beispielen zur Gleichberechtigung von Mann und Frau (II.), zur Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paarbeziehungen (III.) sowie von gleichgeschlechtlichen Eltern- und Familienkonstellationen (IV.), zur Entwicklung der Elternschaft (V.) und zu Entwicklung eigener Grundrechtspositionen des Kindes gegenüber dem Staat (VI.).
II. Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und 2 GG)
Ungeachtet der unmissverständlichen Vorgabe in Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind, war die geschlechterbezogene Gleichberechtigung in einer nicht geringen Zahl Gegenstand verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. Das mag angesichts der tatsächlichen familiär-gesellschaftlichen Verhältnisse bei Inkrafttreten des Grundgesetzes und in den ersten Jahrzehnten seiner Geltung nicht überraschen. Ein kleiner Teil der die Gleichberechtigung betreffenden Fragen soll nachfolgend knapp beleuchtet werden, wobei angesichts des Generalthemas Familienverfassungsrecht eine Konzentration auf die Gleichberechtigung in Ehe und Familie erfolgt.
1. Gleichberechtigung in der Familie
Das Bundesverfassungsgericht sah sich bereits in seiner frühen Rechtsprechung aus dem Jahr 1953 zu der Klarstellung veranlasst, dass Männer und Frauen auch in Ehe und Familie gleichberechtigt seien. Zwar seien im Bereich des Familienrechts dem Gesetzgeber "im Hinblick auf die objektiven biologischen oder funktionalen (arbeitsteiligen) Unterschiede" nach der Natur des jeweiligen Lebensverhältnisses spezifische rechtliche Regelungen erlaubt oder sogar notwendig. Zur Erläuterung dieser gestatteten oder gebotenen Differenzierung wurde – insoweit überzeugend – auf Bestimmungen zum Schutze der Frau als Mutter verwiesen, aber auch auf Unterschie...