Gegenstand der Entscheidung und Sachverhalt
Die Entscheidung des BVerfG vom 9.4.2024 erklärt den § 1600 Abs. 2 Alt. 1 und 2 (Ausschluss der Vaterschaftsanfechtung des Mannes, der an Eides Statt versichert, der leibliche Vater zu sein, aufgrund einer bestehenden sozial-familiären Beziehung des Kindes zum rechtlichen Vater im Zeitpunkt der letzten Tatsacheninstanz oder zum Zeitpunkt des Todes des rechtlichen Vaters) und Abs. 3 S. 1 BGB (Legaldefinition: Bestehen einer sozial-familiären Beziehung) für nicht mit Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG vereinbar.
Das OLG Naumburg hatte zuvor einen Antrag des leiblichen Vaters auf Anfechtung der rechtlichen Vaterschaft unter Berufung auf das Bestehen einer sozial-familiären Beziehung zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind zurückgewiesen. Bei Geburt des gemeinsamen Kindes lebten die Eltern noch in einem Haushalt. Dann erfolgte die Trennung. Dem Vaterschaftsanerkenntnis des leiblichen Vaters verweigerte die Mutter sodann die Zustimmung, stattdessen stimmte sie dem Vaterschaftsanerkenntnis des neuen Partners zu und verweigerte den begehrten Umgang des leiblichen Vaters mit dem Kind. In der ersten Instanz obsiegte der leibliche Vater mit seinem Vaterschaftsanfechtungsantrag und wurde auch als biologischer Vater festgestellt. Dagegen ging die Mutter in die Beschwerdeinstanz. Durch die Verfahrensdauer in der Beschwerdeinstanz entstand über die Zeit eine sozial-familiäre Beziehung des Kindes zum rechtlichen Vater. Da der BGH die verfassungswidrigen Vorschriften so auslegt, dass es für das Bestehen der sozial-familiären Beziehung auf den Schluss der letzten Tatsacheninstanz ankommt, betonte das OLG Naumburg, dass der leibliche Vater zwar durch die bestehende Rechtslage und das Vorgehen der Mutter keine Chance auf die rechtliche Vaterschaft hatte, der Senat jedoch den angegriffenen Beschluss aufheben und den Antrag des Vaters zurückweisen müsse, da dies eben Folge der gesetzlichen Regelung sei. Eine konkrete Normenkontrollklage nach Art. 100 Abs. 1 GG strengte der Senat beim BVerfG gleichwohl nicht an. Der leibliche Vater legte Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des OLG Naumburg ein.
Das BVerfG greift in seiner Begründung weit aus und entwickelt die Dogmatik zu Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG weiter und macht Ausführungen, die deutlich über die fallentscheidenden rechtlichen Gesichtspunkte hinausgehen.
Wesentliche Aspekte der Entscheidung
Reichweite des aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG folgenden Ausgestaltungsauftrags
Das BVerfG begründet seine Entscheidung im Wesentlichen damit, dass der Gesetzgeber seinem Ausgestaltungsauftrag aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG nicht in verfassungsrechtlich gebotener Art und Weise nachgekommen sei. Dazu musste das BVerfG die Anforderungen an die Ausgestaltung des einfachen Rechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG in einem ersten Schritt definieren. Dies tut es in sehr ausführlicher Weise und greift dabei so weit aus, dass man den Eindruck gewinnt, das BVerfG nutze diese Gelegenheit, um dem Gesetzgeber verfassungsrechtliche Leitplanken für künftige Reformen des einfachen Rechts aufzuzeigen. In einem zweiten Argumentationsschritt misst das BVerfG dann die zu prüfenden Vorschriften an diesen Maßstäben und erklärt, dass das Mittel des Anfechtungsausschlusses zwar mit den "prägenden Strukturmerkmalen" des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG vereinbar sei, in seiner konkreten Form und Reichweite aber gegen das Übermaßverbot verstoße, also unverhältnismäßig in die Rechte des leiblichen Vaters aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG eingreife und diese somit verletze.
Sehr interessant sind im ersten Schritt die Ausführungen dazu, welche Personen durch Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG geschützt werden, mithin, wer "Eltern" (bzw. "Grundrechtsträger") i.S.d. des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG sind. Diese Auslegungsfrage beschäftigt das BVerfG seit langem, doch noch nie hat sich das BVerfG wohl so grundlegend dazu geäußert wie in dieser Entscheidung. Das BVerfG beruft den Gesetzgeber dazu, diese Frage im Rahmen seines Ausgestaltungsauftrags durch das einfache Recht zu definieren. Das ist typisch für sog. normgeprägte Grundrechte, die der Ausformung durch einfaches Recht bedürfen. Diese Ausgestaltungsfreiheit findet ihre Grenzen in den vom BVerfG erkannten "prägenden Strukturmerkmalen" des Grundrechts, wozu auch zählt, wen der Gesetzgeber zu "Eltern" i.S.d. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG macht. Das BVerfG formuliert die Ausnahme, dass Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG allein bei den leiblichen bzw. biologischen Eltern selbst vorgebe, dass diese immer "Eltern" i.S.d. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG seien, "ohne dass es dafür weiterer Voraussetzungen bedarf". Biologische Eltern sind nach dem BVerfG diejenigen Personen, aus deren beiden Keimzellen das Kind genetisch erzeugt wurde (genetische Eltern). Nicht hinreichend deutlich bleibt leider, ob das BVerfG diesbezüglich seine verwendeten Formulierungen "natürlicher Zeugungsakt" und "durch Geschlechtsverkehr" als Einschränkungen verstanden wissen will (dann gäbe es kein...