BGB § 1600 Abs. 2 Alt. 1, Abs. 3 S. 1
Leitsatz
1. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG gibt im Einzelnen weder vor, welche Personen als Eltern Träger des Elterngrundrechts und Inhaber der Elternverantwortung sind, noch die von den Eltern zur Wahrnehmung ihrer Verantwortung benötigten Handlungsmöglichkeiten. Beides bedarf der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber, der dabei die das Elternrecht im Sinne von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG prägenden Strukturmerkmale beachten muss.
2. Im Rahmen seiner Ausgestaltungspflicht kann der Gesetzgeber die Festlegung derjenigen Personen, die Eltern im Sinne von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG sind, sowohl auf der Statusebene rechtlicher Elternschaft als auch bei dem Innehaben von Elternverantwortung durch eine entsprechende Zuordnung im Fachrecht begründen. Unabhängig von einer fachrechtlichen Zuordnung sind jedenfalls die leiblichen Eltern eines Kindes Eltern im Sinne von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG.
3. Eltern im Sinne von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG muss es grundsätzlich möglich sein, Elternverantwortung für ihre Kinder erhalten und ausüben zu können. Das gibt nicht zwingend vor, das Innehaben von Elternverantwortung und die Anzahl der Träger des Elterngrundrechts von vornherein auf zwei Elternteile zu beschränken; Träger können daher auch Mutter, leiblicher Vater und rechtlicher Vater nebeneinander sein (anders noch BVerfGE 108, 82 <102 ff.>; 133, 59 <78 Rn 52>). Aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG folgt aber schon aufgrund seiner Kindeswohlorientierung eine enge Begrenzung der Zahl der Elternteile (insoweit Fortführung von BVerfGE 108, 82 <103>).
4. Sieht der Gesetzgeber im Rahmen seiner Ausgestaltungspflicht eine rechtliche Elternschaft von drei Elternteilen im Sinne von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG vor, ist er nicht gehalten, allen diesen Elternteilen gleiche Rechte im Verhältnis zu ihrem Kind einzuräumen, sondern er kann die jeweilige Rechtsstellung der Elternteile differenzierend ausgestalten.
5. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG garantiert einem leiblichen Vater die Möglichkeit, auch rechtlicher Vater seines Kindes zu werden. Schließt das Fachrecht – verfassungsrechtlich im Ausgangspunkt zulässig – eine rechtliche Vaterschaft von mehr als einem Vater aus, muss dem leiblichen Vater ein hinreichend effektives Verfahren zur Verfügung stehen, das ihm die Erlangung der rechtlichen Vaterschaft ermöglicht. Dem Elterngrundrecht des leiblichen Vaters wird nicht hinreichend Rechnung getragen, wenn dabei seine gegenwärtige oder frühere sozial-familiäre Beziehung zum Kind, das frühzeitige und konstante Bemühen um die rechtliche Vaterschaft oder der Wegfall einer sozial-familiären Beziehung des Kindes zu seinem bisherigen rechtlichen Vater nicht berücksichtigt werden können.
BVerfG, Urt. des Ersten Senats v. 9.4.2024 – 1 BvR 2017/21 (OLG Naumburg, AG Halle)
1 Anmerkung
Gegenstand der Entscheidung und Sachverhalt
Die Entscheidung des BVerfG vom 9.4.2024 erklärt den § 1600 Abs. 2 Alt. 1 und 2 (Ausschluss der Vaterschaftsanfechtung des Mannes, der an Eides Statt versichert, der leibliche Vater zu sein, aufgrund einer bestehenden sozial-familiären Beziehung des Kindes zum rechtlichen Vater im Zeitpunkt der letzten Tatsacheninstanz oder zum Zeitpunkt des Todes des rechtlichen Vaters) und Abs. 3 S. 1 BGB (Legaldefinition: Bestehen einer sozial-familiären Beziehung) für nicht mit Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG vereinbar.
Das OLG Naumburg hatte zuvor einen Antrag des leiblichen Vaters auf Anfechtung der rechtlichen Vaterschaft unter Berufung auf das Bestehen einer sozial-familiären Beziehung zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind zurückgewiesen. Bei Geburt des gemeinsamen Kindes lebten die Eltern noch in einem Haushalt. Dann erfolgte die Trennung. Dem Vaterschaftsanerkenntnis des leiblichen Vaters verweigerte die Mutter sodann die Zustimmung, stattdessen stimmte sie dem Vaterschaftsanerkenntnis des neuen Partners zu und verweigerte den begehrten Umgang des leiblichen Vaters mit dem Kind. In der ersten Instanz obsiegte der leibliche Vater mit seinem Vaterschaftsanfechtungsantrag und wurde auch als biologischer Vater festgestellt. Dagegen ging die Mutter in die Beschwerdeinstanz. Durch die Verfahrensdauer in der Beschwerdeinstanz entstand über die Zeit eine sozial-familiäre Beziehung des Kindes zum rechtlichen Vater. Da der BGH die verfassungswidrigen Vorschriften so auslegt, dass es für das Bestehen der sozial-familiären Beziehung auf den Schluss der letzten Tatsacheninstanz ankommt, betonte das OLG Naumburg, dass der leibliche Vater zwar durch die bestehende Rechtslage und das Vorgehen der Mutter keine Chance auf die rechtliche Vaterschaft hatte, der Senat jedoch den angegriffenen Beschluss aufheben und den Antrag des Vaters zurückweisen müsse, da dies eben Folge der gesetzlichen Regelung sei. Eine konkrete Normenkontrollklage nach Art. 100 Abs. 1 GG strengte der Senat beim BVerfG gleichwohl nicht an. Der leibliche Vater legte Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des OLG Naumburg ein.
Das BVerfG greift in seiner Begründung weit aus und entwickelt die Dogmatik zu Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG w...