Wie machen es denn die anderen? Rechtsvergleichende Beiträge über Lösungen in anderen Rechtsordnungen bieten Anregungen, zeigen aber auch Probleme auf. Martiny weist auf eine Tendenz zur stärkeren Mathematisierung des Kindesunterhalts durch Unterhaltsformeln hin, wie sie im britischen Child Support Act und in einzelstaatlichen Rechten der USA oder auch in den dort über das Internet angebotenen automatischen Unterhaltsrechnern ("child support calculators") zum Ausdruck kommt. Sowohl die Einkommen wie auch die Zeitanteile beider Eltern werden hier umfassend erhoben. Was hier auf den ersten Blick als besonders "objektiv" erscheint, erweist sich jedoch als ständige Quelle von Auseinandersetzungen über vier Elemente der Berechnung, die Angriffsflächen bieten: zwei Einkommen und zwei Zeitkonten. Deshalb hält Willekens eine genaue Abwägung der Leistungen beider Eltern für unpraktikabel; sie setze außerdem eine massive Einmischung der Gerichte oder der Verwaltung in das Privatleben der Betroffenen voraus, um die erforderlichen Informationen zu überprüfen, und vervielfache die Konflikte über die Unterhaltsberechnung, wodurch die Prozesse in die Länge gezogen würden. Deshalb sei in England die Berechnungsformel des Child Support Act im Jahr 2000 wieder vereinfacht und durch eine Formel ersetzt worden, in der Betreuung erneut pauschal als Unterhalt gilt. Diese Rücknahme der Einkommensanrechnung des betreuenden Elternteils sei damit begründet worden, dass der mit dem Kind zusammenlebende Elternteil seine Unterhaltsleistung in Naturalien erbringe (Bereitstellung der Wohnung, Lebensmittel, Kleidung, Urlaub etc.; Betreuung im engeren Sinne werde nicht erwähnt). Außerdem wurde argumentiert, dass die beiderseitige Einkommensanrechnung in der Praxis auch kaum andere Ergebnisse ergebe als eine einseitige Barunterhaltspflicht wegen der oft fehlenden Leistungsfähigkeit des überwiegend betreuenden Elternteils. Eine Verminderung des zu zahlenden Kindesunterhalts in Abhängigkeit von der Zahl der Übernachtungen im Haushalt blieb jedoch auch nach der Reform des Child Support Act Bestandteil der Kindesunterhaltsformel in England. Es wird berücksichtigt, wie häufig sich das Kind bei dem "non-resident parent" aufhält, so dass die Unterhaltsleistung dann reduziert werden kann. Sobald das Kind sich mindestens eine Nacht pro Woche im Haushalt des anderen Elternteils aufhält, wird der Unterhalt auf Tagessätze umgerechnet und entsprechend reduziert (um ein Siebtel bei einer Übernachtung pro Woche usw.).
Solche rechtsvergleichenden Diskussionen sind anregend, aber auch anspruchsvoll, weil man sehr gründlich die gesamten Systeme kennen und in ihren Verzweigungen untersuchen muss, um sie zu vergleichen. Denn England kennt in diesem Zusammenhang auch ein viel weiteres richterliches Ermessen bei Scheidungsfolgenvereinbarungen durch das Gericht, das unter Berücksichtigung der ehelichen Arbeitsteilung etwa Eigentumsgegenstände, wie das Haus, umverteilen kann, was möglicherweise für die Lebenssituation und den Unterhalt von Kindern viel relevanter ist als die isolierte Kindesunterhaltsforderung. Vergleichbare richterliche Entscheidungsfreiheiten bei der Regelung der Scheidungsfolgen kennt das deutsche Recht nicht. Dieses Beispiel soll verdeutlichen, dass die Betrachtung eines isolierten Bestandteils eines so komplexen Systems wie des englischen allein keine hinreichende Antwort darauf gibt, wie verschiedene Unterhaltsbeiträge insgesamt gewertet und wie auch Sorgearbeit anerkannt werden kann. Man kann einzelne Elemente ausländischer Berechnungssysteme nicht einfach importieren, aber ein intensiverer Vergleich wäre aufschlussreich; hier besteht Bedarf an weiterer Forschung, die auch Erkenntnisgewinne für Rechtsreform und Rechtspraxis verspricht.
Der Beitrag beruht auf einem Vortrag auf der Herbsttagung 2012 der Arbeitsgemeinschaft Familienrecht im Deutschen Anwaltverein in Bremen. Die Vortragsform wurde weitgehend beibehalten und auf umfangreiche Fußnoten verzichtet.
Autor: Prof. Dr. Kirsten Scheiwe , Universität Hildesheim
FF 7/2013, S. 280 - 289