Das Zivilrecht weist zahlreiche Zeitbezüge etwa im Vermögensrecht auf (Verjährung, Ersitzung). Das Familienrecht ist wahrscheinlich das am intensivsten ausgeformte Dauerrechtsverhältnis; hier hat das Zeitelement zahlreiche Auswirkungen, auf die, weil wir uns auf das Kindschaftsrecht konzentrieren, nicht näher eingegangen werden soll. Warum hat das Zeitelement eine solche Durchschlagskraft, dass es in den bereits genannten Regelungsbereichen des Kindschafts-, Sozial- und Verfahrensrechts diese anwachsende Berücksichtigung findet? Die Aussagen der Sozial- und Humanwissenschaften zu Bindung und Trennung im frühen Kindesalter, zu Stresserleben und Traumatisierung und über die Folgen von Instabilität und Diskontinuität in der Sozialisation haben einen so hohen Grad von Übereinstimmung und Homogenität erreicht, dass sie schon längst den Anforderungen an Qualität und Maßstabswirkung entsprechen, wie sie für den Transfer in rechtliche Handlungsstrategien für erforderlich gehalten werden. Diese fundamentalen Erkenntnisse werden bis in die jüngste Zeit immer besser abgesichert und ernsthaft von keiner der "Schulen" bestritten oder infrage gestellt: Es ist allgemeine und durch die Gehirnforschung erst jüngst bestätigte Erfahrung, dass Kleinkinder wesentlich verletzlicher auf Veränderungen in ihren Beziehungen als ältere Kinder und Erwachsene reagieren und dass es für jüngere Kinder eine Katastrophe bedeutet, wenn sie von ihren Hauptbezugspersonen getrennt werden und aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen werden. Es wird zugleich belegt, dass sequenzielle Schädigungen durch frühkindliche Traumata (zumeist im elterlichen Haushalt), die inzwischen mit bildgebenden und biogenetischen Verfahren nachgewiesen werden können, sich tief ins Gehirn "eingebrannt" haben. Dass traumatische Erlebnisse in der frühen Kindheit – Misshandlung, Vernachlässigung oder sexueller Missbrauch – das Depressionsrisiko von Menschen zeitlebens erhöhen, ist aus epidemiologischen Studien bekannt. Die junge Wissenschaft der Epigenetik erklärt jetzt endlich, wie diese prägenden Einflüsse dauerhaft Spuren in Körper und Geist hinterlassen. Sie verändern molekularbiologische Strukturen, die wie Schalter an den Genen sitzen und darüber wachen, ob ein Gen aktiv werden kann oder nicht. Der hier Minderjährigen gegenüber durch besondere Schutzpflichten gebundene Staat wird durch diese humanwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Tätigkeit gezwungen. Bei aller Vorsicht lässt sich bereits sagen, dass in diesem größeren Zusammenhang auch die verfahrensrechtlichen Reformen, von denen ich mich zentral nur mit dem Vorrangs- und Beschleunigungsgebot hier befasse, stehen.
Zwar werden Gesetzgebung und Rechtsprechung nicht müde, den Vorrang des Kindeswohls hervorzuheben, zu dessen besonderer Beachtung sich die Bundesrepublik nicht zuletzt durch die Ratifikation der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet hat; jedoch schien diese Generalklausel des Kindschaftsrechts zu unkonturiert, um eigentlich bereits in ihr enthaltene Implikationen für die Gestaltung des gerichtlichen Verfahrens zu entfalten. Zudem stellt die Erschließung des unbestimmten Rechtsbegriffs "Kindeswohl" immer wieder eine enorme, oft zeitaufwändige Herausforderung dar. Wenn auch kein Gesetzgeber auf diese Generalklausel verzichten kann, finden sich zahlreiche Beispiele für die Entlastung dieser Generalklausel durch bereichsspezifische Regelungen auf der materiellrechtlichen und nun eben endlich auch auf der verfahrensrechtlichen Ebene. Rechtstatsachenforschung, aber auch allgemeine Lebenserfahrung, lassen m.E. nachfolgende Schlussfolgerung zu:
"Die Zeit spricht einfacher als Worte. Die Botschaft, die sie bringt, ist laut und klar hörbar. Weil Zeit weniger manipulierbar ist als Sprache, kann sie weniger leicht verzerrt werden. Sie kann die Wahrheit hinausschreien, wo Worte lügen."
Um nochmals auf das kindliche Zeitempfinden zurückzukommen, sei dieses mit einer grundlegenden Aussage des bereits erwähnten Autorenteams Goldstein/Freud/Solnit veranschaulicht:
Zitat
"Kinder sind anders als Erwachsene in Bezug auf ihre Einstellung zur Zeit. Der normale Erwachsene misst den Ablauf der Zeit mittels Uhr und Kalender, während Kinder die Dauer eines Zeitraums je nach Dringlichkeit ihrer Triebwünsche beurteilen. Jeder Aufschub in der Beurteilung eines Triebwunsches erscheint ihnen darum endlos; dasselbe gilt für die Dauer der Trennung von einem Liebesobjekt. (Das Kleinkind) erkennt als Eltern diejenigen Personen an, die von Stunde zu Stunde und Tag für Tag seine wichtigsten Körperbedürfnisse befriedigen, seine Gefühle erwecken und beantworten und für sein physisches und psychisches Wachstum und Gedeihen Sorge tragen."