Mit dem Vorrang- und Beschleunigungsgebot geht es um die Verkürzung der Verfahrensdauer, aber nicht um den "kurzen Prozess". Das wäre sprichwörtlich ein "das Kind mit dem Bade ausschütten".
"Eine Preisgabe von rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien und des Gebots der Einhaltung der einfachgesetzlichen Verfahrensvorschriften in Kindschaftssachen sind mit der Einführung des Beschleunigungsgebotes nicht verbunden. Nach wie vor muss das Familiengericht sein Verfahren so gestalten, dass es möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen kann. In diesem Zusammenhang unabdingbare Verfahrensverzögerungen müssen hingenommen werden. Jedoch trägt jede Verfahrensverzögerung auf Grund der genannten Nachteile der Verfahrensdauer die widerlegbare Vermutung in sich, dem Kindeswohl abträglich zu sein. Diese Vermutung muss zum einen bei jeder Maßnahme, die zu einer Verlängerung des Verfahrens führt, insbesondere unter dem Blickwinkel des Kindeswohls widerlegt werden können. Zum anderen müssen für das Kindeswohl abträgliche Situationen und die Gefahr, dass während der Dauer des Verfahrens vollendete Tatsachen geschaffen werden oder Gefährdungssituationen aufrechterhalten bleiben, gegebenenfalls durch den Abschluss eines Zwischenvergleichs oder den Erlass einer einstweiligen Anordnung, erforderlichenfalls mit deren Befristung, reduziert werden."
Die Gerechtigkeitspostulate der verteilenden Gerechtigkeit, eine Sanktionierung von Fehlverhalten, die klassischen zivilrechtlichen Ausgleichsmechanismen sind im Familienrecht, insbesondere im Kindschaftsrecht immer wieder von begrenzter Bedeutung oder kontraproduktiver Wirkung, solange wir am Vorrang des Kindeswohls festhalten wollen. Wie schon gesagt, es geht immer wieder "nur" um das Finden der "am wenigsten schädlichen Alternative". Ehrgeizige richterliche Interventionen zur Wiederherstellung von "Gerechtigkeit" und zur vermeintlichen Sicherung des Kindeswohls, waren diesem oft abträglich oder sie haben aus einer für das Kind ungünstigen eine dessen Wohl gefährdende Situation herbeigeführt. Das Kindeswohl darf daher in den Fällen der sog. ertrotzten Kontinuität oder der mutwilligen Verzögerung des Verfahrens durch einzelne Verfahrensbeteiligte nicht zum Zwecke der Herstellung einer vermeintlich "gerechten" Lösung in den Hintergrund gedrängt werden, um ein Fehlverhalten zu sanktionieren – nach dem Motto: Fiat iustitia pereat infans.
Vor einer schematischen Handhabung des Beschleunigungsgebots, vor einer schnellen Entscheidung um jeden Preis muss deutlich gewarnt werden. Kindeswohlorientierung und rechtsstaatliche Anforderungen an die Durchführung des Verfahrens müssen sensibel austariert, ausbalanciert werden; das BVerfG würde hier bei Zielkonflikten dieser Art und Schwere die Formel von der "praktischen Konkordanz" bemühen. Ein stillschweigendes Zuwarten mit dem Verfahrensabschluss oder die Hoffnung, dass sich etwas mit dem Zeitablauf von selbst erledigen wird, solche Haltungen und Handhabungen sind mit dem Beschleunigungsgebot unvereinbar: Nichtentscheiden ist auch Entscheiden. Sind die auf Grund des hier geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes zu erhebenden Erkenntnisquellen ausgeschöpft, besteht die Pflicht zur Entscheidung. Hier könnte sich ein zusätzlicher Ansatz nicht nur für die Diskussion um die Untätigkeitsbeschwerde ergeben, sondern auch für Befangenheitsanträge, die mit Untätigkeit, dem Unterlassen von verfahrensfördernden Maßnahmen und eben der Nichtentscheidung entscheidungsreifer Verfahren begründet werden könnten. Alter, Verfahrensdauer, Fallkonstellation, angestrebte Verfahrensziele, (Vor-)Belastungen, Traumatisierungen, die Gefahr von Retraumatisierungen und andere Faktoren beeinflussen die vom Beschleunigungsgebot im konkreten Einzellfall ausgehenden Anforderungen an die Verfahrensgestaltung. Die Anforderungen an den Familienrichter für eine differenzierte und nicht schematische Handhabung des Beschleunigungsgebots sind gewiss hoch. Der Richter bleibt dennoch Richter und wird nicht zum Psychologen. Kenntnisse über humanwissenschaftliche Grundannahmen sollten indes Voraussetzung familienrichterlicher Tätigkeit sein. Aber auch diese Forderung ist nicht besonders originell oder neu: Solches wurde bereits 1979 vom Bundestag, danach vom BVerfG, immer wieder von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen und erst jüngst von einer vom Bundesministerium der Justiz eingesetzten Arbeitsgruppe eingefordert. Welche Chancen hat eine solche Forderung angesichts der zahlreichen materiellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Reformen der jüngsten Zeit, die fast alle Fortbildungskapazitäten zu absorbieren scheinen?! Die Vorbereitung auf eine Tätigkeit als Familienrichter lässt nach wie vor sehr zu wünschen übrig und gerät in Widerspruch zu den Voraussetzungen der Fachanwaltschaft, die zudem die turnusmäßige Fortbildung sicherstellen. Einerseits: Die Beschleunigung des Verfahrens entspricht im Zweifel dem Kindeswohl. Andererse...