Bergschneider hat in seiner Besprechung des Beschlusses vom 31.10.2012 dem BGH vorgehalten, diese Entscheidung nicht zum Anlass genommen zu haben, die klassische Kernbereichslehre aus dem Jahr 2004 einer überfälligen Wartung unterzogen zu haben. Die Gesetzeslage habe sich doch seither wesentlich geändert, sodass gleichsam die Geschäftsgrundlage für die bisherige Kernbereichslehre weggefallen sei, zumindest könne sie in dieser strikten Form wie bisher nicht aufrechterhalten werden. Der BGH – so Bergschneider – halte auch weiterhin an seiner Kernbereichsrechtsprechung fest. Worum geht es?
Mit der Kernbereichslehre hat der BGH den bisher größten Eingriff in die Privatautonomie der Ehegatten vorgenommen, ausgehend von der genannten Rechtsprechung des BVerfG. Im unterhaltsrechtlichen Kontext sind zwei Aspekte von Bedeutung. Einmal gehört bekanntlich der Betreuungsunterhalt zum Kernbereich der Scheidungsfolgen genauso wie der Krankheitsunterhalt nach § 1572 BGB und der Unterhalt wegen Alters. Damit reduziert die Rechtsprechung die gestalterischen Eingriffsmöglichkeiten, die § 1585c S. 1 BGB an sich bietet und die auch die kautelarjuristische Praxis bis weit in die 90er-Jahre extensiv genutzt hat und deren klassische Ausprägung der Totalverzichtsvertrag war, mit dem – meistens – die Ehefrau auf alle Scheidungsfolgen verzichtete. Dem hat der BGH zu Recht einen Riegel vorgeschoben und Vereinbarungen dieser Art mit kritischem Blick unter die Lupe genommen. Die erste Frage ist, ob die bisherige Gesetzeslage dem BGH nicht Veranlassung geben müsste, die gute alte Kernbereichslehre zu modifizieren; die zweite Frage ist, ob dies nicht bereits geschehen ist.
Gründe, die bisherige Kernbereichslehre auf den Prüfstand zu stellen, gibt es sicherlich – insoweit ist Bergschneider Recht zu geben. Tatsächlich hat sich ja die Gesetzeslage seit der Grundsatzentscheidung des BGH vom 11.2.2004 geändert. Zum 1.1.2008 ist der Betreuungsunterhalt einem neuen Altersphasenmodell gewichen, welches wie bisher am Alter des Kindes ansetzt und dem betreuenden Elternteil bis zur Vollendung des 3. Lebensjahres ein Betreuungsprivileg einräumt, ohne dass er verpflichtet ist, einer teilweisen oder vollschichtigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Nach Vollendung des 3. Lebensjahres kommt es auf die Möglichkeit der Fremdbetreuung und auf weitere individuelle Umstände an. Im Vergleich zum bisherigen Altersphasenmodell, welches der Gesetzgeber zum 1.1.2008 modifiziert hat, liegt tatsächlich der von Bergschneider festgestellte "Gewichtsverlust" vor: Bis zum 3. Lebensjahr des zu betreuenden Kindes ist der Betreuungsunterhalt sozusagen unantastbar, danach kommt es darauf an. Bedeutet diese Gesetzeslage tatsächlich, dass die Kernbereichslehre einer Revision bedarf oder hat der BGH nicht schon stillschweigend an der Stellschraube gedreht in Richtung auf eine Erweiterung des gestalterischen Spielraums? Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, die Ausführungen des BGH aus dem Jahr 2004 mit denen der genannten Entscheidung vom 31.10.2012 zu vergleichen.
Die bekannte Formulierung des BGH lautet in der Ursprungsentscheidung wie folgt:
Zitat
"Zu diesem Kernbereich gehört in erster Linie der Betreuungsunterhalt (§ 1570 BGB), der schon im Hinblick auf seine Ausrichtung am Kindesinteresse nicht der freien Disposition der Ehegatten unterliegt."
Immerhin lassen sich nach Auffassung des BGH Fälle denken, bei denen Kinderbetreuung und Erwerbstätigkeit miteinander verbunden werden können, und überhaupt sei für einen guten Erziehungserfolg nicht die Dauerpräsenz der Bezugsperson erforderlich. Das klingt nach einem grundsätzlichen Verzichtsverbot, dessen Ausnahmen auf besondere Fälle beschränkt bleiben. Das hat in der Praxis zu der verbreiteten Ansicht geführt, dass ein Verzicht auf Betreuungsunterhalt nicht "kontrollfest" zu gestalten ist. Diese Rechtsprechung hat der BGH aber in der bereits erwähnten Entscheidung vom 31.10.2013 deutlich modifiziert. Zwar sei der Betreuungsunterhalt einer Disposition der Parteien am wenigsten zugänglich, weil er im Interesse der gemeinsamen Kinder gewährt werde, das aber schließe eine vertragliche Modifikation des Anspruchs – "bis hin zu dessen gänzlichen Ausschluss“ – nicht schlechthin aus. Erstmals also nennt der BGH in der genannten Entscheidung den Ausschluss des Betreuungsunterhalts als eine mögliche gestalterische Option. Davon war im Ausgangsurteil nicht die Rede, jetzt aber schon."
Damit hat der BGH – unbemerkt – den Gestaltungsspielraum des Betreuungsunterhalts ausgedehnt, gleichzeitig aber auch die Maßstäbe neu justiert, bei denen der gestalterische Spielraum begrenzt ist:
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Ein Totalverzicht auf Betreuungsunterhalt ist unbedenklich, wenn kein gemeinsamer Kinderwunsch der Ehegatten besteht und auch sonst für deren Absicht, eine Familie mit Kindern zu gründen, nichts ersichtlich ist (so schon in der Entscheidung vom 28.11.2007); |
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aber auch bei jüngeren Ehegatten, die im Modell einer Doppelverdienerehe lebe... |