1. Die Regel der gemeinsamen und gleichen Ausübung der elterlichen Sorge
Art. 1510 Abs. 1 S. 1 gr. ZGB sieht vor, dass die Sorge für das minderjährige Kind Pflicht und Recht der Eltern ist, die sie gemeinsam und gleich ausüben. Das Wort "gleich" wurde mit dem Gesetz 4800/2021 aufgenommen. Der Begriff soll als "gleichwertig" ausgelegt werden, sodass die gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge den gleichen Wert oder die gleiche Bedeutung für jeden Elternteil haben soll. Es vertritt auch die Meinung, dass dieses Adverb eine qualitative Wertung enthält, im Sinne, dass beide Eltern ausgleichende Rollen gegenüber dem Kind übernehmen.
Laut Art. 1510 Abs. 1 S. 2 gehören der gemeinsamen und gleichen ausübenden elterlichen Sorge die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge), die Verwaltung dessen Vermögens und die gerichtliche und außergerichtliche Vertretung des Kindes an.
2. Die Reform des Hauptkriteriums des Kindeswohls
Das griechische Familienrecht ist, wie erwähnt, pädozentrisch, weil alle Entscheidungen der Eltern und des Gerichts das Kindeswohl anstreben sollen. Doch spricht die neue Vorschrift des Art. 1511 Abs. 1 gr. ZGB nunmehr von optimalem Kindeswohl. Der neue Begriff entspricht dem angelsächsischen "best interest of the child", das dem gr. ZGB eigentlich fremd ist, in dessen Vorschriften nur der Begriff "Kindeswohl" verwendet wird.
Das optimale Kindeswohl wird im Art. 1511 Abs. 2 gr. ZGB präzisiert: "Bei der Erteilung oder bei der Regelung der elterlichen Sorge muss die Gerichtsentscheidung das Kindeswohl anstreben, das insbesondere von der beträchtlichen Beteiligung beider Elternteile bei der Erziehung und Sorge des Kindes und von der Abwendung des Bruchs seiner Beziehungen zu jedem Elternteil verfolgt wird. Die Gerichtsentscheidung berücksichtigt verschiedene Parameter, wie die Fähigkeit und die Absicht jedes Elternteils, die Rechte des anderen zu respektieren, das Verhalten jedes Elternteils während des vorhergehenden Zeitraums und die Einhaltung seiner Verpflichtungen, die vom Gesetz, Gerichtsentscheidungen, staatsanwaltschaftlichen Anordnungen und vorhergehenden Vereinbarungen der Eltern in Bezug auf das Kind entstehen".
Der neue Abs. 2 des Art. 1511 gr. ZGB legt zwei Teilkriterien für die Präzisierung des Hauptkriteriums des Kindeswohls, nämlich die beträchtliche Beteiligung jedes Elternteils und die Abwendung des Bruchs der Beziehungen zu jedem Elternteil fest. Die neue Vorschrift, die eine Hilfestellung für die gerichtliche Qualifikation des unbestimmten Rechtsbegriffs des Kindeswohls leistet, entspricht der Theorie der Vermeidung des Eltern-Kind-Entfremdungssyndroms, das aber aus psychiatrischer Sicht sehr umstritten ist. Der Entwurf dieser neuen Regelung, der die o.g. Teilkriterien als allererste Kriterien bezeichnet hatte, wurde von der Literatur, der Union der Richter und Staatsanwälte und der Nationalkommission für Menschenrechte stark kritisiert. Der Grund der Kritik lag darin, dass alle Kinder unabhängig von ihren besonderen Alters-, Lebens- und Familienbedingungen einheitlich behandelt werden würden. Tatsächlich sei der Richter an die allgemeinen und abstrakten Vorentscheidungen, Vorbewertungen und Vorschätzungen des Gesetzgebers gebunden und somit gehindert, das Kindeswohl in jedem Einzelfall in concreto zu beurteilen. Eine solche richterliche Bindung an die o.g. Teilkriterien könnte auch gegen das Hauptkriterium des Kindeswohls jedes einzelnen Kindes verstoßen. Infolge dieser Kritik wurde das Wort "allererster" mit dem Wort "insbesondere" umgesetzt. Die wenigen Gerichtsentscheidungen, die bisher erlassen wurden, ignorieren diese richterliche Bindung und beurteilen das konkrete Kindeswohl des jeweiligen Kindes unter Berücksichtigung der jeweils möglichen größeren Beteiligung beider Eltern bei der Erziehung des Kindes.
Die Tatsache, dass die Teilkriterien der Beteiligung beider Eltern und der Abwendung des Bruchs der Beziehungen zu jedem Elternteil zur Konkretisierung des Hauptkriteriums des Kindeswohls nur indikativ nummeriert sind, wird durch Art. 1511 Abs. 4 gr. ZGB bestätigt. Dieser Vorschrift zufolge soll das Gericht das Kind um seine Meinung ersuchen, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist. Das Gericht ist verpflichtet, die Meinung des Kindes anzuhören, wenn es feststellt, dass das Kind reif genug ist, um sich eine Meinung über eine bestimmte Sache der elterlichen Sorge zu bil...