Es hat sich gezeigt, dass in Bezug auf alle Kontroversen, die der elektronische Rechtsverkehr aufwirft, für die Praxis unabhängig von eigenen Überzeugungen nur empfohlen werden kann, dem Prinzip des sichersten Weges zu folgen. Dass so oft auf dieses Prinzip rekurriert werden muss, stellt dem Handeln des Gesetz- und Verordnungsgebers nicht das beste Zeugnis aus. Auf diese Weise wird die Risikolast all' zu sehr auf die Praxis verlagert. Freilich setzt ein Handeln nach dem Prinzip des sichersten Weges Problembewusstsein voraus. Denn nur wer erkennt, dass bezüglich einer Fragestellung keine Einigkeit besteht, kann dieser Empfehlung folgen.
Zur Abrundung dieser Sicherheitsstrategie besteht erfreulicherweise noch die Möglichkeit, Unterstützung durch das Gericht zu erfahren. Auch wenn Fristen bis "zur äußersten Grenze" ausgeschöpft werden dürfen, kann es sich – gerade mit Blick auf zahlreiche im elektronischen Rechtsverkehr drohenden Komplikationen – in der Praxis anbieten, Schriftsätze schon vor Fristablauf bei Gericht einzureichen. Denn Gerichte treffen aus dem Gebot eines fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 GG) gegenüber den Beteiligten Fürsorgepflichten. Die Beteiligten dürfen darauf vertrauen, dass ihre Schriftsätze alsbald nach ihrem Eingang bei Gericht zur Kenntnis genommen werden und offensichtliche äußere formale Mängel dabei nicht unentdeckt bleiben. In diesem Sinne hat ein Gericht einen Bevollmächtigten beispielsweise auf einen leicht erkennbaren Formmangel in einem Schriftsatz hinzuweisen und ihm Gelegenheit zu geben, den Fehler fristgerecht zu beheben. Dazu gehört es auch in dem Fall, in dem ein nicht auf einem sicheren Übermittlungsweg bei Gericht eingereichter Schriftsatz nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist, den Beteiligten im Rahmen des ordnungsgemäßem Geschäftsgangs darauf hinzuweisen und ihm Gelegenheit einzuräumen, den Fehler noch fristgerecht zu beheben. Dieser Chance begibt sich derjenige, der Schriftsätze erst kurz vor Fristablauf einreicht. Selbstverständlich darf nicht verkannt werden, dass keine generelle Verpflichtung der Gerichte besteht, die Formalien eines als elektronisches Dokument eingereichten Schriftsatzes sofort zu prüfen. Wer elektronische Dokumente indes so rechtzeitig vor Fristablauf einreicht, dass im Rahmen des normalen Geschäftsgangs noch eine Überprüfung stattfinden kann, eröffnet sich zumindest diese Chance.
Autor: Prof. Dr. Marie Herberger, LL.M., Bielefeld
FF 10/2023, S. 389 - 401