I. Einführung
Das Problem, das sich in einem Scheidungsprozess stellt, ist eines der sozialen Ungleichheit, der jedenfalls möglichen Ungleichheit von zwei Personen, die vorher – in "ehelicher Gemeinschaft" – den gleichen Lebensstandard und (jedenfalls was das private Leben angeht) auch die gleiche Zukunftsperspektive hatten. Dieses Ungleichheitsproblem nimmt mit der Reform, die 2008 in Kraft getreten ist, eine neue Form an. Nachdem seit den 1970er Jahren nicht mehr entlang der Schuldfrage über den künftigen Lebensstandard entschieden wurde, konnte der oder die wirtschaftlich schwächere Seite – also meist die Frau – damit rechnen, den bisher erreichten Lebensstandard beizubehalten, jedenfalls im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten des Mannes. Das führte allerdings in den Fällen, in denen der Mann eine neue Familie gründete, zu einer anderen Form der Ungleichheit, als relative Schlechterstellung der neuen Familie.
Für die an einem Scheidungsverfahren Beteiligten kommt eine spezifische Dimension von Ungleichheit in den Blick, nämlich nicht nur die der horizontalen Ungleichheit, der Verteilung von Einkommensbestandteilen an verschiedene Berechtigte. Es wird nun die biographische Dimension relevant, die unterschiedlichen Formen der Lebensführung und der Erwerbsbeteiligung im Lebenslauf. Während der Ehe war sowohl der finanzielle Beitrag zur Lebensführung verschieden wie auch der Beitrag zur häuslichen Arbeit. Das Gericht kann jedoch diese Beiträge nicht im Detail bilanzieren, es muss sich auf typisierte Lebenslaufmuster beziehen. Dabei muss das Gericht davon ausgehen, dass die Ehegatten über den Berufsverlauf der Frau einvernehmlich entschieden haben. In einem Scheidungsverfahren ist daher zu rekonstruieren, wie eine zum Zeitpunkt der Scheidung gegebene Ressourcen-Ungleichheit zwischen Mann und Frau sich herausgebildet hat. Um entscheiden zu können, ob und wie lange eine Frau Anspruch auf ergänzenden Unterhalt hat, müssen ehebedingte Nachteile mit Blick auf die Strukturen des Erwerbssystems identifiziert und im Hinblick auf entgangene Einkommenschancen quantifiziert werden.
II. Analytische Grundlagen
Wesentliche Gründe für eine Ressourcen-Ungleichheit zuungunsten von Frauen sind:
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geringere Einkommenschancen in den typischen Frauenberufen |
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geringere Aufstiegschancen sowohl in den Frauenberufen wie in den "gemischten" Berufen |
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Diskontinuität der Erwerbsbeteiligung von Frauen mit Kindern |
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niedrigere Wochenarbeitszeit von Frauen mit Kindern – als geringfügige Beschäftigung, als Teilzeitarbeit oder auch als Verzicht auf Überstunden. |
Die genannten Merkmale gelten – cum grano salis – auch für die Frauenerwerbsarbeit in den neuen Bundesländern, denn obwohl sich die Familien- und Erwerbsstrukturen der DDR von denen der alten Bundesrepublik unterschieden, war auch dort das Fraueneinkommen durchschnittlich niedriger – trotz kontinuierlicher Erwerbsbiographie. Und es gab auch in der DDR eine relevante Zahl in Teilzeit beschäftigter Frauen (etwa ein Viertel), sodass die Frage der ehebedingten Nachteile auch für diese Frauen relevant ist.
Mit dem Hinweis auf die typischerweise diskontinuierliche Erwerbsbeteiligung verheirateter Frauen ist eine Längsschnitt-Sicht auf den Lebensverlauf angesprochen. Die biographische Perspektive ist eine doppelte:
1. Sie richtet sich zum einen auf überdauernde, Ungleichheit generierende soziale Strukturen sowie auf diese Ungleichheit begründende bzw. verfestigende Institutionen, die nur in der Ausprägung sich gewandelt haben:
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nach Geschlechtern differenzierendes Berufsbildungssystem |
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Arbeitsmarktspaltung zwischen Frauen- und Männerberufen |
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"weibliche" und "männliche" betriebliche Arbeitszeitmuster |
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geringere Durchschnittsverdienste von Frauen |
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institutionelle Förderung der Hausfrauenehe |
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ein Halbtags-Schulsystem, das die Präsenz einer Hausfrau und Mutter unterstellt. |
Zudem wirken im Zeitverlauf bestimmte Mechanismen des Arbeitsmarktes: Berufliche Qualifikationen veralten, und eine Erwerbsunterbrechung beschädigt die "employability", die Beschäftigungsfähigkeit überhaupt.
2. In biographischer Sicht müssen zum anderen auch persönliche Entscheidungen als Ursache von Ungleichheit einbezogen werden. Diese Entscheidungen ergeben sich sowohl aufgrund strukturell induzierter Abwägung – Wer verdient mehr? Welche Steuerklasse ist günstig? Was kostet eine Kinderbetreuung? Die Entscheidungen folgen zugleich auch kulturellen Leitbildern von Ehe, Kindeswohl und Familienleben. Diese Entscheidungsgrundlagen – die strukturell und die kulturell begründeten – sind dabei in gleicher Weise anzuerkennen.
Alle diese Faktoren kommen bei einer Scheidung zur Sprache. Was nachträglich bei der Frage des Unterhalts zu bestimmen ist, sind also nur in zweiter Linie der jeweils individuellen Lebenslage zuzurechnende – also tatsächlich individuell zu bestimmende – Nachteile. Denn ob eine vor der Familiengründung aufgenommene Berufstätigkeit tatsächlich von Dauer gewesen wäre oder etwa durch Krankheit oder Entlassung unterbrochen, ob persönliches Engagement, Wei...