Abschließend sollen einige Ideen zu möglichen Fallgruppen vorgestellt werden, die in Scheidungsverfahren vorkommen könnten:
Fallgruppe: Qualifizierte Frauen in einem "Männerberuf" mit einem in diesem Erwerbssegment üblichen Einkommen:
Falls eine Frau dieser Fallgruppe Kinder hat, tritt typischerweise eine Aufstiegsbremse auf, die die Arbeitszeit betrifft. Denn sowohl reguläre Vollzeit wie temporäre Teilzeitarbeit sind in diesem Erwerbssegment unüblich. Damit sind Einkommensverluste, die mit beruflicher Stagnation einhergehen, ehebedingte Nachteile.
Fallgruppe: Qualifizierte Frauen in anderen Erwerbssegmenten.
Für eine Frau dieser Fallgruppe ist der Berufswechsel bzw. der Wechsel in eine andere Branche eine typische Folge von Erwerbsunterbrechung und Teilzeitarbeit. Damit sind sowohl der Verlust der beruflichen Qualifikation wie der Einkommensverlust ehebedingte Nachteile. Diese Einschätzung kann modifiziert werden, wenn Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder vorhanden waren, die Frau aber aufgrund "kultureller" Motive nicht voll erwerbstätig war.
Fallgruppe: Frauen in einem sog. Frauenberuf mit niedrigem/mittlerem Qualifikationsniveau und geringem Erwerbseinkommen. Hier könnte unterschieden werden:
a) Bei Alt-Ehen kann bereits die Ausbildungsentscheidung als ehebedingter Nachteil gelten, weil nach dem industriegesellschaftlichen Lebenslaufmodell eine junge Frau keinen längerfristig existenzsichernden Beruf ergreifen musste.
b) Auch bei jüngeren Frauen ist die schwache Erwerbsposition möglicherweise als ehebedingter Nachteil anzusehen, wenn während der Ehe Umschulungs- oder Weiterbildungsversuche unternommen wurden, sie aber auf dem entsprechenden Teilarbeitsmarkt keinen Arbeitsplatz oder nur eine Teilzeitstelle gefunden hat.
Ganz vorläufig: Fallgruppen
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Qualifizierte Frauen in einem "Männerberuf":
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Familiengründung als typische Aufstiegsbremse → ehebedingter Nachteil |
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Qualifizierte Frauen in anderen Bereichen:
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bei familienbedingtem Berufswechsel oder Wechsel in andere Branche: Verlust der Qualifikation und Einkommensverlust typisch → ehebedingte Nachteile |
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Niedrige/mittlere Qualifikation und geringes Einkommen:
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sofern bei Alt-Ehen schon die Ausbildungsentscheidung auf eine künftige Ehe bezogen war → ehebedingter Nachteil |
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sofern der Ertrag von Umschulungsinitiativen o.Ä. ausbleibt → ehebedingter Nachteil |
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Fazit: Für das Verständnis der Lebensläufe von Frauen ist es sinnvoll und notwendig, sowohl die strukturelle und von Institutionen vorgegebene Einengung der biographischen Optionen zu berücksichtigen als auch die kulturellen Grundlagen (und ihren Wandel) individueller Entscheidungen zu kennen.
Dass der moderne Lebenslauf eine soziale Struktur ist, die mit anderen sozialen Strukturen in Wechselbeziehung steht, ist vorbewusst jedem bekannt, allerdings bildet sich ein Verständnis sozialer Strukturen meist erst dann, wenn sie bereits im Wandel begriffen sind. Für die heute jungen Frauen (und Männer) gilt jedenfalls, dass der Lebenslauf der Eltern für das eigene Leben keine Anleitung mehr bietet. Dabei geht es für sie allerdings auch nicht um die Frage, an welchen neuen arbeits- und sozialpolitischen Strukturen sie ihr biographisches Handeln ausrichten sollten. Denn an die Stelle von Strukturierung ist De-Strukturierung und Flexibilisierung getreten – und dem/der Einzelnen eröffnen sich damit Chancen der beruflichen Entwicklung und Selbstbestimmung, die die ältere Generation in ihrer Mehrheit nicht gekannt hat. Es ergibt sich damit zugleich das Risiko biographischer Diskontinuität.
Verwendete Literatur:
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Baethge, Martin 1991: Arbeit, Vergesellschaftung, Identität – Zur zunehmenden normativen Subjektivierung von Arbeit. In: Soziale Welt, Jg. 42, Heft 1: 6–19
Beck-Gernsheim, Elisabeth 1991: Frauen – die heimliche Ressource der Sozialpolitik? – Plädoyer für andere Formen der Solidarität. In: WSI-Mitteilungen, Jg. 44, Heft 2: 58–66
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Bleses, Peter/Seeleib-Kaiser, Martin 1999: Zum Wandel wohlfahrtsstaatlicher Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland: Zwischen Lohnarbeit und Familie. Zeitschrift für Soziologie Jg. 28: Heft 2: 114–135
Bothfeld, Silke/Schmidt, Tanja/Topsch, Verena 2005a: Erosion des männlichen Ernährermodells. Die Erwerbstätigkeit von Frauen mit Kindern unter drei Jahren. Gutachten für das BMBF: Berlin
Bothfeld, Silke/Klammer, Ute u.a. 2005b: WSI-Frauendatenreport. edition sigma: Berlin
Bothfeld, Silke 2008: Und...