Erst an dritter Stelle folgt die Frage nach der Leistungsfähigkeit des potentiellen Unterhaltsschuldners – dieses Problem stand bereits bei den ersten Entscheidungen der Oberlandesgerichte und des BGH im Zentrum des Interesses und bildet auch weiterhin den Schwerpunkt der unterhaltsrechtlichen Betrachtung. Hatte sich das OLG Oldenburg 1991 noch gegen jede Vorfestlegung und dafür ausgesprochen, den angemessenen Eigenbedarf nach den tatsächlichen Lebensverhältnissen individuell zu bestimmen, kam seitens der Sozialämter alsbald der Wunsch nach einer festen Vorgabe auf. Dem Verlangen nach einer sicheren Berechnungsgrundlage ist die obergerichtliche Rechtsprechung bereitwillig gefolgt. Obwohl die Diskussionen noch am Anfang standen und es über das im Einzelfall Angemessene allenfalls diffuse Vorstellungen gab, wurden die Leitlinien umgehend um einen weiteren Selbstbehalt ergänzt. Festgesetzt wurde dieser durch die Erhöhung des allgemein für Verwandte geltenden Selbstbehalts um einen prozentualen Zuschlag von 25 %. Wenn auch vor dem Betrag ein "mindestens" stand und steht, sollte man sich nicht über den quasi normativen Charakter solcher Festlegungen und die Suggestionskraft der durch entsprechende Programme erzeugten Rechenergebnisse täuschen.
a) Der Selbstbehalt beim Elternunterhalt
Wenn wir vom Selbstbehalt sprechen, müssen wir uns bewusst machen, dass sich der einheitlich verwendete Begriff zwar jeweils auf den angemessenen Bedarf des Unterhaltspflichtigen bezieht, dieser aber aus einem unterschiedlichen Blickwinkel beurteilt wird. Die oft schmerzhaften Einschnitte in die Lebensgestaltung beim Kindes- und Ehegattenunterhalt folgen aus dem Abhängigkeitsverhältnis der Berechtigten und der Verantwortung des Pflichtigen. Beides ist Teil der eigenen Lebensstellung und bedingt die daraus folgenden Beschränkungen. Der Selbstbehalt dient dann dazu, einen Mindeststandard zu sichern, um eine übermäßige Einschränkung des Pflichtigen in seiner Lebensführung zu vermeiden bzw. ihm beim Kindesunterhalt im Mangelfall das Existenzminimum als Untergrenze zu belassen. Beim Elternunterhalt ist dies jedoch nicht das entscheidende Kriterium. Hier hat der Selbstbehalt die Funktion einer pauschalen Grenze, bei deren Unterschreiten der Unterhalt nicht ohne Einschränkung der eigenen Lebensstellung aufgebracht werden kann. Er begründet damit eine – widerlegliche – Vermutung, dass bei einem die pauschalen Grenzen übersteigenden Einkommen dieses für den Elternunterhalt verfügbar ist.
Der BGH hat den Ansatz eines maßvoll erhöhten Selbstbehalts aufgegriffen und in seinem grundlegenden Urteil vom 23.10.2002 um zwei wichtige Eckpfeiler ergänzt:
- Maßgebend für den Eigenbedarf ist die Lebensstellung, die dem Einkommen, Vermögen und sozialen Rang des Verpflichteten entspricht. Durch die Inanspruchnahme auf Elternunterhalt braucht dieser keine spürbare und dauerhafte Senkung seines berufs- und einkommenstypischen Unterhaltsniveaus hinzunehmen, solange er keinen nach seinen Verhältnissen unangemessenen Aufwand betreibt oder ein Leben im Luxus führt. Dies ist eigentlich nichts Besonderes, sondern eine Selbstverständlichkeit, die unmittelbar aus § 1603 Abs. 1 BGB folgt.
- Um einer Nivellierung unterschiedlicher Lebensverhältnisse entgegenzuwirken, muss der jeweilige Selbstbehalt der individuellen Lebensstellung des Pflichtigen gerecht werden. Dies soll nach der Rechtsprechung des BGH bekanntlich durch einen dynamischen Faktor geschehen, wonach das den unantastbaren Mindestbetrag übersteigende Einkommen nur zu 50 % einzusetzen ist. Erst die Summe aus Sockelbetrag und dem anrechnungsfreien Einkommen bestimmt den Selbstbehalt. Bei der gebotenen regelmäßigen Anpassung an das Einkommens- und Preisniveau bedarf es folglich einer Erhöhung des Sockelbetrages um 200 EUR, damit der Selbstbehalt um 100 EUR steigt. Mit dieser Methode ist der BGH einem vom Deutschen Verein entwickelten Rechenschema gefolgt. Allerdings ist dieses Schema nicht unumstößlich, sondern gilt lediglich als eine praktikable Methode, um zu einem angemessenen Ergebnis zu gelangen.
Folgerichtig hat der BGH diese Grundsätze auch auf die anderen Unterhaltsverhältnisse übertragen, bei denen es an einer persönlichen Verantwortung und Abhängigkeit zwischen Gläubiger und Schuldner fehlt (volljährige Kinder mit selbstständiger Lebensstellung und Enkel). Für eine Einschränkung der eigenen Lebensführung gibt es in diesen Fällen ebenfalls keine Rechtfertigung aus dem Gesetz.
In der öffentlichen Wahrnehmung verbindet sich mit dieser Entscheidung ein großzügiger Maßstab mit einer nur moderaten Belastung der unterhaltspflichtigen Kinder. Die anfangs großzügige Beurteilung wurde jedoch schon früh relativiert durch die Rechtsprechung zum Familienunterhalt. Sie wird auch dadurch relativiert, dass der BGH von einem...