Verwandte handeln in der Regel solidarisch. Für die weit überwiegende Mehrzahl ist die intergenerationelle Unterstützung eine Selbstverständlichkeit. Hier wird die vom Unterhaltsrecht geradezu inflationär geforderte familiäre Solidarität in vielfältiger Form gelebt. Dies vollzieht sich durch persönliche und finanzielle Zuwendungen – dabei regelmäßig bedürftigkeitsgerecht und den individuellen Ressourcen entsprechend. Denn Solidarität wird von der Wechselbezüglichkeit getragen und erfordert immer auch Rücksichtnahme und Achtung des Einzelnen.
Von solchen Bindungen und familiärer Solidarität ist der Elternunterhalt, mit dem die Gerichte befasst sind, weit entfernt. Hier zeigt sich paradoxerweise eine Entsolidarisierung, wenn Sozialbehörden ungebunden von persönlicher Rücksichtnahme einer strengen Gesetzeslogik folgend die auf sie übergangenen Ansprüche verfolgen.
Dieses Spannungsverhältnis wird aber nicht explizit diskutiert, sondern ist regelmäßig nur unterschwellig spürbar. Das Primat der Freiheit zur Gestaltung aller Lebensverhältnisse tritt in Widerstreit zu der mit dem Unterhalt verbundenen finanziellen Verantwortung – einer Verantwortung, für die sich bei einer Individualisierung jeder Lebensgestaltung kaum eine überzeugende Grundlage finden lässt. Das allein auf den familiären Status bezogene Unterhaltsrecht mündet so zum Ende des Lebens in einem Auffangtatbestand, in dem alle langzeitig wirksamen Folgen kumulieren – u.a. Ausbildung, Berufstätigkeit, Arbeitslosigkeit, Lebens- und Konsumgewohnheiten, Krankheit, Scheidung usw. Bei den von der Rechtspraxis angestrebten tragfähigen Ergebnissen erreicht der Elternunterhalt nur selten ein bedarfsdeckendes Niveau. Treten aber die nach dem Gesetz Berechtigten gar nicht mehr persönlich in Erscheinung und ist der Mangelfall der Regelfall, fehlen dem Elternunterhalt wesentliche Elemente, die einen familienrechtlichen Anspruch ansonsten kennzeichnen. Damit rückt der Anspruch in die Nähe einer dem Kostenbeitragsrecht zuzuordnenden Abgabe (vgl. § 94 Abs. 2 SGB XII, § 90 SGB VIII). Darüber, ob die von der Rechtsprechung angelegten Maßstäbe dem Generationenverhältnis stets gerecht werden können, lässt sich trefflich streiten. Letztlich geht es um die angemessene Verteilung bestehender Lasten bei ganz unterschiedlichen Lebensverläufen. Im Unterhaltsrecht tritt die privatrechtliche Verantwortung für schicksalhafte Lebensrisiken zudem in Konkurrenz zu den Beiträgen und Abgaben, die das unterhaltspflichtige Kind bereits im Rahmen der Sozialversicherung, durch Steuern sowie als Unterhaltsverantwortung für die nachfolgende Generation bereits getragen hat und weiterhin tragen muss. In diesem komplexen Geflecht vielfältiger Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen kann es nicht auf Dauer allein der Rechtsprechung überlassen bleiben, die Grenzen vom Angemessenen bis zur Unbilligkeit abzustecken. Hier ordnend einzugreifen, fällt vielmehr in den originären Verantwortungsbereich des Gesetzgebers.
Bis es aber soweit ist, stehen im Streitfall die Gerichte in der Verantwortung, jedem das nach seinem Maß Angemessene zuzuweisen. Der Rechtsanwaltschaft fällt dabei die Aufgabe zu, durch eine detaillierte Aufarbeitung des jeweiligen Sachverhalts die notwendigen Impulse für die jedem Einzelnen gerecht werdende Entscheidung zu geben. Hierzu sollen die vorstehenden Überlegungen einen Beitrag leisten.
Was im Einzelfall gerecht ist, lässt sich nicht berechnen. Der Elternunterhalt in der gerichtlichen Praxis ist und bleibt daher mehr als eine Mathematikaufgabe.
Überarbeitetes und um Anmerkungen ergänztes Manuskript des auf dem 66. Deutschen Anwaltstag 2015 – im Rahmen der Fachveranstaltungen der Arbeitsgemeinschaft Familienrecht – gehaltenen Vortrags. Der Vortragsstil wurde beibehalten.
Autor: Heinrich Schürmann , Vors. Richter am OLG Oldenburg
FF 10/2015, S. 392 - 405