I. §§ 1666, 1666a BGB
Das BVerfG hat sich im Jahr 2020 in zwei Entscheidungen zu erfolgten Sorgerechtsentzügen geäußert.
In einer ersten Entscheidung vom 10.6.2020, mit der die Verfassungsbeschwerde wegen formaler Mängel nicht zur Entscheidung angenommen wurde, sah sich das BVerfG aufgrund der "wenig konkreten Feststellungen der Fachgerichte zu Art und Ausmaß der Kindeswohlgefährdung" zu einigen Anmerkungen veranlasst. Das BVerfG betont erneut, dass die Einholung eines Sachverständigengutachtens im einstweiligen Anordnungsverfahren von Verfassungs wegen nicht stets geboten ist. Es betont weiter seine ständige Rechtsprechung, nach der sich aus Art. 6 Abs. 2, 3 GG für die Fachgerichte das Gebot ergibt, die dem Kind drohenden Schäden ihrer Art, Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit nach konkret zu benennen und sie vor dem Hintergrund des grundrechtlichen Schutzes vor der Trennung des Kindes von seinen Eltern zu bewerten. Gleiches gilt – und dieser Prüfungspunkt wird in der Praxis oft vergessen – für die Feststellung und Beurteilung dazu, dass auch unter Berücksichtigung der negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern eine hinreichende Aussicht auf Beseitigung der drohenden Kindeswohlgefährdung besteht und sich seine Situation in der Gesamtbetrachtung verbessert. Entsprechend reiche es, so das BVerfG im konkreten Fall, nicht, wenn sich das Familiengericht weitgehend auf die Beschreibung der tatsächlichen Geschehnisse beschränke (hier: Gewalt gegenüber anderen Kindern und die Tötung einer Taube) und sie ohne weitergehende Begründung als Ausdruck eines "in großer seelischer Not befindlichen Kindes" deute, ohne nähere Erwägungen zu der Art und der Schwere der Kindeswohlgefährdung und ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit anzustellen. Eine Schädigung oder Gefährdung des Kindeswohls könne auf jeden Fall, so dass BVerfG, nicht alleine in Verhaltensauffälligkeiten des Jungen gesehen werden.
Die Entscheidung macht für die Praxis deutlich, dass Verhaltensauffälligkeiten eines Kindes nicht ohne weiteres ausreichend sind, um einen Sorgerechtsentzug zu begründen. Auch ist zwingend in den Blick zu nehmen, wie sich die Trennung des Kindes von seinen Eltern auswirkt. Dies ist auch dann erforderlich, wenn das Kind zum Zeitpunkt der Einleitung eines Verfahrens bereits durch das Jugendamt in Obhut genommen worden ist. Notwendig ist stets eine Gefahrenprognose, die durch eine umfassende Abwägung vorzunehmen und auch zu verschriftlichen ist.
Hier setzt eine weitere Entscheidung des BVerfG vom 21.9.2020 an, in der sich das BVerfG mit der Entscheidung des BGH aus dem Februar 2019 im Hinblick auf den anzulegenden Prüfungsmaßstab bei der Verhältnismäßigkeit eines Sorgerechtsentzugs auseinander setzt. Zur Erinnerung: Der BGH hatte in dieser Entscheidung einen modifizierten Prüfungsmaßstab entwickelt, der eine doppelte Kindeswohlprüfung einmal auf der Tatbestandsseite ("hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts") und einmal auf der Rechtsfolgenseite vorsieht ("nachhaltigen Gefährdung des Kindes mit einer ziemlichen Sicherheit eines Schadenseintritts"). Diese Differenzierung der Wahrscheinlichkeitsgrade auf der Tatbestandsebene und der Rechtsfolgenseite sei nach der Ansicht des BGH geboten, um dem Staat einerseits ein – gegebenenfalls nur niederschwelliges – Eingreifen zu ermöglichen, andererseits aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeit eine Korrekturmöglichkeit zur Verfügung zu stellen, mittels derer ein übermäßiges Verhalten des Staates vermieden werden könne, und zwar letztlich auch zum Wohle des Kindes.
Dieser Differenzierung widerspricht das BVerfG: wenn sich eine erhebliche Gefährdung des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lasse, hänge die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Entzugs des Sorgerechts nach §§ 1666, 1666a BGB von der Verhältnismäßigkeit dieses Eingriffs in das Elternrecht ab. Diese verlange, so dass BVerfG ausdrücklich, keine weitere – höhere – Sicherheit des Schadenseintritts erfordernde Prognose, wie sie der BGH verlange, weil dieser Gesichtspunkt bereits durch die Ausrichtung der Kindeswohlprüfung an der je-desto-Formel berücksichtigt sei. Verfassungsrechtlich komme es darauf an, dass sich der entsprechende Eingriff als geeignet, erforderlich und angemessen erweise.
Für die Praxis ist die Entscheidung des BVerfG von Bedeutung, weil die neue Rechtsprechung des BGH de facto zu einer Einschränkung des familiengerichtlichen Handlungsspielraums geführt hat. Mit der Entscheidung des BVerfG wird der notwendige Handlungsspielraum insbesondere für die Fälle sichergestellt, in denen ein Schadenseintritt nur mäßig wahrscheinlich ist, jedoch der drohende Schaden groß wäre – z.B. in den Fällen der Gefahr des sexuellen Missbrauchs.
Der 4. Familiensenat des OLG Frankfurt hatte in zweiter Instanz den Entzug der elterlichen Sorge für vier Kinder im Alter von 1 bis 4 Jahren einer nach ihrer Rückkehr nach Deutschland inhaftierten IS-Anhängerin zu entscheiden. Der Senat ste...