Dr. Mathias Grandel
Wir Familienrechtler geben uns nicht gern damit zufrieden, die Verhältnisse so zu nehmen, wie sie sind. Wenn es uns gerechtfertigt scheint, erlauben wir uns, anstelle der tatsächlichen Verhältnisse der Entscheidungsfindung fiktive Umstände zugrunde zu legen.
Wohnt ein Ehegatte mietfrei in eigener Immobilie, legen wir zur Unterhaltsberechnung fiktive ersparte Aufwendungen zugrunde. Kommt ein Ehegatte seiner Erwerbsobliegenheit nicht nach, nehmen wir fiktiv an, er hätte eine Arbeitsstelle gefunden, wenn er sich nur ausreichend bemüht hätte. Wir rechnen ihm ein fiktives Gehalt aus einer ebenso fiktiv ausgewählten Beschäftigungsmöglichkeit an. Verletzt ein Ehegatte seine Obliegenheit zur Vermögensumschichtung, erfinden wir fiktive Kapitaleinkünfte. An eine Fiktion knüpft nahtlos die nächste an. Will z.B. eine Mutter ihr Kind selbst betreuen, läuft sie Gefahr, dass sie unterhaltsrechtlich so behandelt wird, als würde ihr Kind eine Fremdbetreuungseinrichtung besuchen und als stünde sie für Erwerbsarbeit zur Verfügung. Daran schließt sich die zweite Fiktion an, dass sie dann einen Arbeitsplatz hätte finden können und fiktiv 1.100 EUR verdienen würde. Mit § 1578b BGB hat der Gesetzgeber die Spielwiese für fiktive Verläufe ins schier Unermessliche vergrößert. Erwerbsverläufe über Jahrzehnte hinweg dürfen fiktiv nachgezeichnet werden.
Das Verführerische und Reizvolle an Fiktionen ist, dass sie praktisch nie widerlegt werden können. Die Unrichtigkeit unterstellter Lebenssachverhalte, die gar nicht stattgefunden haben, lässt sich nicht beweisen. Die lästige Bindung an vorgegebene Tatsachen entfällt. Dem richterlichen Beurteilungsspielraum sind außer dem Verstoß gegen Denkgesetze und allgemeingültige Erfahrungssätze keine Grenzen gesetzt. Das mag den Hang zum Fiktiven im Familienrecht erklären. Fiktionen haben gemeinhin auch ein langes Leben. Das weiß jeder Familienanwalt, der schon einmal vor der Aufgabe stand, einen Familienrichter davon zu überzeugen, dass das im früheren Verfahren wegen Verstoßes gegen Erwerbsobliegenheiten fiktiv angerechnete Einkommen jetzt nicht mehr berücksichtigt werden darf, weil der Pflichtige jetzt ausreichende, wenn auch erfolglose Bewerbungsbemühungen belegen kann oder eine Arbeit gefunden hat, in der er aber weniger verdient als fingiert worden war.
Bei dem Faible fürs Fiktive war es auch nur eine Frage der Zeit, bis eine neue Spezies der Fiktion das Licht der Welt erblickt. Das Urheberrecht dafür gebührt dem OLG Celle (Urt. v. 2.10.2008 – 17 UF 97/08, FF 2009, 87): Es hat den "fiktiven ehebedingten Nachteil" ins Leben gerufen. Er geht so: Bei einem Unterhalt wegen Krankheit kommt das Gericht zum Ergebnis, dass tatsächlich keine ehebedingten Nachteile vorliegen. Die geschiedene Ehefrau bezog eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Durch den Versorgungsausgleich sei sie in concreto sogar besser gestellt als bei durchgehender Erwerbstätigkeit. Das OLG meint jedoch, dass sie dann, wenn man außer Acht ließe, dass sie tatsächlich keine ehebedingten Nachteile habe, fiktiv ehebedingte Nachteile gehabt hätte und diese mit zu berücksichtigen seien. Es geht davon aus, dass die unterhaltsberechtigte Ehefrau ohne ihre Erkrankung und ohne Eheschließung eine Tätigkeit als Sozialarbeiterin oder Sozialpädagogin ausüben könnte und ca. 1.670 EUR netto erzielen würde. Ohne die Erkrankung hätte die Ehefrau in der Ehe aber voraussichtlich die Betreuung der beiden Kinder weiter übernommen und damit ehebedingte Erwerbsnachteile gehabt.
Hätte – könnte – würde! Creative Writing im Dienste der Einzelfallgerechtigkeit! Das macht aber nicht nur das OLG Celle so. Das machen wir tagtäglich alle! Wie viel Konjunktiv verträgt die Einzelfallgerechtigkeit?