Die Kritik an der verlogenen Sexualmoral sechzig Jahre später verband sich, jedenfalls in großen Teilen der 68er-Bewegung, mit der Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung. Gefordert wurde eine Befreiung der Sexualmoral und damit verbunden eine Neuorganisation des gesellschaftlichen Miteinanders jenseits von patriarchalischer und institutionalisierter Kleinfamilie. Man dachte, wie dies der Philosoph Sloterdijk formuliert hat, „Revolution und Sexualität seien Reimwörter in einer fremden Sprache“. Allerdings ist vielleicht die Bedeutung der „Pille“ für die Veränderung der deutschen Gesellschaft größer gewesen als die der außerparlamentarischen und feministischen Bewegung. In den 60er Jahren und in den 70er Jahren kam es zur ersten Liberalisierung der die außereheliche Sexualität betreffenden Gesetze. Nur eine Minderheit der Bevölkerung experimentierte allerdings mit alternativen Lebensformen zur Erprobung neuer Weisen des sexuellen Miteinanders. Die Mehrheit ließ sich von der Sexwelle der Medien „hinwegspülen“. In größerem Umfang kam es lediglich zu außerehelichen Lebensgemeinschaften, die anders als die nach dem Krieg anerkannten „Onkel-Ehen“ von Kriegerwitwen der praktischen Erprobung des Zusammenlebens dienten. Die Eheschließung wurde zunehmend als Bekräftigung einer bereits länger andauernden Partnerschaft verstanden und stand nicht mehr am Anfang der tatsächlich gelebten Beziehung. In der Ehe wurde die bereits erprobte Liebe meist aus Anlass der Geburt eines gemeinsamen Kindes Institution und damit wieder „gesellschaftsverträglich“. Wenn zwischenzeitlich jedoch ein Viertel der Frauen und ein Drittel der Männer kinderlos bleiben, entfällt auch dieses zentrale Heiratsmotiv.
Gleichwohl bleibt die Ehe für die faktische Lebensgemeinschaft Vorbild. Henrich hat unlängst die im Quartier Montmartre in Paris einmal jährlich wiederholte Schließung von Nichtehen beschrieben, bei der der Bürgermeister zu den anwesenden Paaren feierlich sagt: „Ich erkläre sie hiermit für Verlobte auf ewig.“ Das Ambiente ist wie bei einer Eheschließung: Mit Samt bezogene Stühle, Blumen, elegantes Publikum, Freudentränen. Auch die Beliebtheit des französischen PACS (pacte civil de solidarité) belegt den Trend zur “Ehe light’. Er war vorrangig für gleichgeschlechtliche Paare gedacht, die nicht heiraten konnten. Es steht aber auch heterosexuellen Paaren offen, die sich die jederzeitige Trennung vorbehalten und keine Verpflichtungen für den Fall der Beendigung ihrer Beziehung eingehen, aber gleichwohl nach außen hin dokumentieren wollen, dass sie ein Paar sind. 90 % der Paare, die sich zwischenzeitlich registrieren lassen, sind heterosexuell. In Deutschland fragen häufig heterosexuelle Paare nach, ob sie nicht eine eingetragene Lebenspartnerschaft begründen könnten, wobei sie deren ideologische Gleichstellung mit der Ehe übersehen und davon ausgehen, dass es sich um eine Ehe mit weniger Pflichten handeln würde. Insbesondere die Bestimmung des § 1353 Abs. 1 Satz 1 BGB ("Die Ehe wird auf Lebenszeit geschlossen") würde für diese Form einer Lebensgemeinschaft nicht gelten.
Dieser Trend zur "vereinbarten Instabilität" ("Lebensgemeinschaft mit Widerrufsrecht") wird durch die Statistik untermauert. Nichteheliche Paare scheinen nämlich einem höheren Trennungsrisiko als verheiratete Paare zu unterliegen. 20 % trennen sich bereits nach zwei Jahren, nach sechs Jahren ist die Hälfte der faktischen Lebensgemeinschaften wieder gelöst. Eine über zehn Jahre dauernde nichteheliche Lebensgemeinschaft ist nur selten anzutreffen. Noch höher ist das Trennungsrisiko beim getrennten Zusammenleben ("living apart together"). Die Hälfte dieser LATs geht innerhalb von sechs Jahren wieder kaputt. Die Zahl der faktischen Lebensgemeinschaften, in denen Kinder geboren werden und aufwachsen, nimmt trotz dieser Instabilität zu. Jedes dritte Kind wird mittlerweile außerhalb einer Ehe geboren. Es kommt somit zu einer Neuinterpretation der Ehe, die nicht mehr wie bisher an Kinder anknüpft.
Was ist der Grund für die „Ehemüdigkeit“ vor allem junger Paare? Ist es vielleicht die Überforderung der Ehe, die dem Wunsch nach lebenslanger Vereinigung von emotionaler, geistiger und körperlicher Liebe nicht gerecht werden kann. Oder banal ausgedrückt: Alle Lust will Ewigkeit. Aber sobald man die nahezu ewig dauernde Lebenslänglichkeit gefunden hat, stiehlt sich die Lust, die Grund der Anziehung war, davon. Der Preis der Treue scheint der Verlust der Leidenschaft zu sein. Als ob sie nur flüchtig existieren könnte und Paare nur die Wahl zwischen heißen Affären mit Verfallsdatum oder ewiger Liebe ohne Ekstase hätten. Die sexuelle Revolution hat nicht zur „charakterlichen Selbststeuerung des Menschen“ geführt, sondern nur die Lust zur Ware gemacht. In der Folgezeit kam es zu einer neuen Offenheit. In Talkshows und im Internet wurde das Sexuelle als Skandalon enteignet und nahezu trivial. Schließlich reduzierte si...