Dr. Mathias Grandel
"Richterkönig oder Subsumtionsautomat?" betitelte Regina Ogorek ihre 1986 erschienene Untersuchung zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert. Darin spiegelt sich die Bandbreite der juristischen Methodenlehre und Methodenkritik im Gefolge von Aufklärung und Gewaltenteilung im 18. und 19. Jahrhundert wider. Im Kern geht es um die Frage, welchen Spielraum der Richter bei der Gesetzesauslegung hat.
Montesquieu sah den Richter lediglich als Mund des Gesetzes, der nur ausspricht, was der Gesetzgeber in den Gesetzestext hineingelegt hat. Der Gesetzgeber habe mit der Vorgabe des Gesetzestextes die Lösung des konkreten Lebenssachverhalts bereits vorgegeben. Es sei nicht Sache des Richters, Gesetze auszulegen, er brauche sie nur anzuwenden, so Cesare Beccaria, ein Zeitgenosse Montesquieus. Diese später von Rudolf von Jhering abwertend als "Begriffsjurisprudenz" bezeichnete Methode wurde Anfang des 20. Jahrhunderts durch die auf Jhering zurückgehende und von Philipp Heck maßgeblich geprägte Interessenjurisprudenz abgelöst. Die Lösung eines Falles leite sich nicht aus einem logischen begrifflichen System ab. Vielmehr sei es Aufgabe des Richters, zu ermitteln, welche Interessen sich in dem zu beurteilenden Fall gegenüberstehen und wie das Gesetz diesen Interessenkonflikt entschieden habe. Darauf aufbauend ist heute herrschend die sog. Wertungsjurisprudenz. Der Grundgedanke ist, dass dem Gesetz eine Bewertung seitens des Gesetzgebers zugrunde liege, die Inhalt der Gesetzesnorm ist. Zur Ermittlung der für die Lösung des Einzelfalls maßgeblichen Wertung des Gesetzgebers kommen die bekannten Methoden der Wortlautauslegung, der systematischen und historischen Auslegung und vor allem die Ermittlung des objektivierten Gesetzeszwecks in Betracht. Rechtsfindung wird nicht nur als Subsumtion betrachtet, sondern ist Rechtsschöpfung.
Was nur, wenn eine gesetzgeberische Wertentscheidung im Gesetz keinen ausreichenden Niederschlag gefunden hat, sie abhanden gekommen zu sein scheint oder der gesetzgeberische Wille bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt ist? Ins Blickfeld geraten dem Familienrechtler dabei sofort die §§ 1570 und 1578b BGB. Kein Problem, könnte man einwenden. Auch sog. "weiche Normen" sind der richterlichen Bewertung zugänglich. Man könnte auf § 138 BGB oder auf § 242 BGB verweisen. Auch hier versteht es der Jurist zu werten. Bei genauem Hinsehen gibt es aber einen gravierenden Unterschied. Hinter der Frage, was sittenwidrig ist oder bei der Beurteilung von Treu und Glauben steht ein Wertungsmaßstab in Form eines sozialethischen Grundkonsenses innerhalb der Gesellschaft zur Verfügung. Ethik und Moral, also das "Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden", lenken den objektivierten gesetzgeberischen Willen.
Dergleichen wird man bei § 1570 BGB und § 1578b BGB nicht finden können. Zu uneinheitlich sind die Einstellungen und Vorstellungen zum Wert der Eigenbetreuung des Kindes durch einen Elternteil und zur gebotenen nachehelichen Solidarität. Augenscheinlich manifestiert sich das z.B. am Schlagabtausch zum Betreuungsgeld und an polemischen Parolen wie "Herdprämie" oder "Kinderabstelleinrichtung". Hergebrachte Traditionen gelten nicht mehr. Ein Familienleitbild gibt es nicht. Der Maßstab von Ethik und Moral als Instrument der Bewertung versagt hier ohnehin.
Es keimt deshalb der Verdacht auf, dass sich zur Anwendung der familienrechtlichen Billigkeitsklauseln klammheimlich eine neue Methode der Entscheidungsfindung in den Kanon der Methodenlehre eingeschlichen hat. Schon die sog. Freirechtsschule gründete Anfang des 20. Jahrhunderts auf der Erkenntnis, dass rechtliche Entscheidungen nicht allein aus dem Gesetz abgeleitet werden können. Mit einem Augenzwinkern hatte Benda in seinem Nachwort zur Gedächtnisschrift für Nagelmann eine neue Methode heraufziehen sehen, die "Lehre von der intuitiven Approximation". Ihr wird im Familienrecht eine große Zukunft beschert sein. Nicht mehr der vergeblichen Suche nach gesetzgeberischen Wertentscheidungen gilt das Augenmerk, sondern über sein Bauchgefühl nähert sich der Entscheider auf seine innere Stimme hörend der Lösung des Falles.
Unjuristisch ausgedrückt handelt es sich um die "Lehre vom Über-den-Daumen-Peilen".
Autor: Dr. Mathias Grandel
Dr. Mathias Grandel, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Familienrecht, Augsburg
FF 11/2013, S. 425